Risikoscheuer Kapitalmarkt bremst Mobilitäts-Start-ups

München – Die Pioniere der Verkehrswende erleben schwierige Zeiten. Weltweit zeigen sich Kapitalgeber bei disruptiven Gründern im Auto- und Mobilitätssektor zurückhaltend. Laut aktuellem „Mobility Start-up Radar“ der Strategieberatung Oliver Wyman sank im laufenden Jahr die Zahl der Finanzierungsrunden in der globalen Mobilitätswelt um mehr als ein Viertel im Vergleich zum Vorjahr. Vor allem Investitionen in besonders junge Start-ups wurden seltener getätigt. Das eingesammelte Wagniskapital lag mit rund 39 Milliarden US-Dollar knapp unter dem Vorjahresniveau. Europäische Start-ups fielen zurück, da der beschleunigte Wettlauf der USA und China um nachhaltige Fahrzeug- und Batterietechnik die Kapitalströme bestimmte. Dennoch besteht auch in Deutschland die Chance, wieder aufzuholen. Bei komplexen Technologien wie dem autonomen Fahren spornt nach Einschätzung von Oliver Wyman die strenge europäische Regulierung die hiesigen Entwickler an – und kann so langfristig einen Qualitätsvorsprung bringen.

Die Bedeutung wächst, doch die Kapitalausstattung stagniert. Start-ups im Mobilitätssektor mussten sich im Jahr 2023 mit weltweit rund 39 Milliarden Dollar Risikokapital begnügen. Das zeigt der seit 2017 jährlich veröffentlichte „Mobility Start-up Radar“ der Strategieberatung Oliver Wyman. Zwei Jahre zuvor waren es noch 83 Milliarden, 2022 hatte sich das eingesetzte Wagniskapital bereits halbiert. „Nach dem Boom der letzten Jahre zeigen sich die Investoren zurückhaltend – und das, obwohl der Bedarf für nachhaltige Mobilitätslösungen immer größer wird“, sagt Andreas Nienhaus, Mobilitätsexperte und Partner bei Oliver Wyman. „Aus unserer Sicht ein Trend der Risikoaversion, der Sorgen bereitet.“ Die Zahl der Investitionsrunden fiel mit 750 sogar auf den tiefsten Stand seit 2015. „Wir erleben eine Phase, in der verstärkt auf Profitabilität geachtet wird und Start-ups ein belastbares Geschäftsmodell nachweisen müssen, um an Kapital zu kommen. Clevere Konzepte und Wachstum allein genügen nicht mehr“, sagt Nienhaus.

Das Volumen einer durchschnittlichen Finanzierungsrunde wuchs zuletzt auf 52 Millionen Dollar – den zweithöchsten Wert der vergangenen zehn Jahre. Zudem lag der jährliche Zuwachs seit 2019 im Schnitt bei rund 14 Prozent – ein deutliches Zeichen für einen steigenden Reifegrad der Investitionsobjekte. „Die gute Nachricht: Geldgeber unterstützen Unternehmen, die bereits erste Erfolge vorweisen können bei ihrer Skalierung und Erschließung neuer Märkte und Kunden“, sagt Steffen Rilling, Associate Partner bei Oliver Wyman und Co-Autor des „Mobility Start-up Radar“. Immerhin noch 61 sogenannte Megarunden mit jeweils mehr als 100 Millionen Dollar Volumen kamen 2023 zustande – 20 weniger als im Vorjahr. „Angesichts der krisenbelasteten Weltwirtschaft ist die Zahl dennoch beachtlich. Das unterstreicht das Potenzial einiger Vorreiter im fortgeschrittenen Stadium“, sagt Rilling.

USA und China im Clinch

Der Oliver Wyman-Report zeigt auch: Das große Geld fließt vor allem in den USA und in China. 69 Prozent des globalen Risikokapitals ging an die dortigen Pioniere einer neuen Mobilität, allein die USA vereint die Hälfte aller Investitionen auf sich. Dagegen endete die kurze Aufholjagd europäischer Start-ups aus dem Vorjahr vorerst mit einer harten Bremsung. Die zur Verfügung gestellten Mittel sanken um 21 Prozent, keine andere Region erlebte einen solchen Rückgang. „Europa hatte sich 2022 einen Anteil von rund 20 Prozent erarbeitet, doch muss sich nun mit nur noch 15 Prozent begnügen“, sagt Rilling. Die Szene ist geprägt von verhältnismäßig kleinen Einsätzen: Knapp 28 Millionen Dollar betrug die Höhe einer durchschnittlichen Finanzierungsrunde in Europa, während asiatische und US-amerikanische Start-ups im Schnitt fast 80 Millionen kassierten.

„Treiber dieser Entwicklung ist das Decoupling mit einem verstärkten Systemwettbewerb zwischen China und den USA“, erklärt Rilling. Der amerikanische Inflation Reduction Act habe Investitionen in Batterietechnik für Elektromobilität und entsprechende Recyclingkonzepte spürbar stimuliert. Als erstarkender Spieler tritt Indien auf den Plan der neuen Mobilität. „Indien holt mit seinem Wachstum als Rivale von China stark auf und unternimmt vielversprechende Versuche, lokale Champions zu schaffen.“ Im Segment der Mobilitätsdienstleistungen floss jeder vierte Dollar im Jahr 2023 bereits nach Indien, was einer Verdoppelung des Anteils gleichkommt.

Boom bei nachhaltiger Mobilität

Mit Blick auf die verschiedenen Geschäftsfelder verzeichnete global nur das Feld „Grüne Mobilität“ einen Finanzierungsaufschwung. 42 Prozent mehr Risikokapital als 2022 floss in dieses Segment, das Themen wie Stromspeicher und Ladeinfrastruktur einschließt. „Solche Anbieter lassen sich eben nicht in der heimischen Garage hochziehen wie ein kleines Tech-Start-up. Das Speichergeschäft braucht Anlagen, Rohstoffe, viel Entwicklung und ist sehr kapitalintensiv“, erklärt Nienhaus. „Die Investitionslogik folgt hier weltweit der politisch verordneten Priorisierung der E-Mobilität.“ Die Finanzierung spiegelt die strategische Bedeutung: Zwischen 2021 und 2023 flossen laut Studie etwa 13 Milliarden US-Dollar allein in Start-ups entlang der Batterie-Wertschöpfungskette.

Alle anderen Segmente verloren an Boden. Das über die vergangenen Jahre am stärksten finanzierte Feld der Mobilitätsdienstleistungen baute binnen Jahresfrist um 13 Prozent ab. „Ausgewählte etablierte Spieler mit ihren Sharing- und Fahrdienstkonzepten erhielten hier trotz des Minus weiterhin nennenswerte Unterstützung“, sagt Nienhaus. Einen Gang zurückschalten mussten hingegen solche Start-ups, die sich mit der Digitalisierung von Fahrzeugverkauf und Aftersales befassen. Ihnen standen 52 Prozent weniger frisches Kapital zur Verfügung als noch 2022. Ernüchternd fiel auch die Bilanz beim einstigen Hype-Thema des vernetzten und autonomen Fahrens aus: 23 Prozent weniger Mittel flossen hier. „In der Vergangenheit wurde bei selbstfahrenden Autos ausschließlich auf die Technologie geschaut. Man hat vergessen, die Menschen mitzunehmen und für Akzeptanz zu werben“, sagt Nienhaus. „Da ist Sand im Getriebe.“

Hoffnung für Europa

Ausgerechnet das Gebiet der selbstfahrenden Autos könnte jedoch ein Hoffnungsträger für Europas Mobilitäts-Start-ups sein. Die Finanzierungslücke gegenüber Amerika und Asien war hier 2023 kleiner als in anderen Feldern: 1,6 Milliarden Dollar flossen in Europa, verglichen mit 3,4 Milliarden in Amerika und 2,1 in Asien. „Die anfangs hemmende Regulatorik in Europa könnte langfristig zum strategischen Vorteil werden, da beharrlich an qualitativ hochwertigen und abgesicherten Lösungen gearbeitet werden muss“, sagt Nienhaus. In den USA seien oft Konsumentenklagen das größte Risiko. In Europa dagegen seien die Risiken dem Markteintritt vorgelagert. „Es müssen erstmal strenge regulatorische Hürden übersprungen werden“, sagt Nienhaus. Somit seien Start-ups in Deutschland und Europa oft weiter, als es scheine. „Das Aufholpotenzial besteht insbesondere in den hochkomplexen Technologien. Wenn man in die Details geht, ist der europäische Hersteller oftmals in der Technologieentwicklung mindestens genauso weit wie ein amerikanischer. Nur die Skalierung steht aus.“

Das ermutigende Muster sei auch bei den europäischen Automobilherstellern zu beobachten. Sie galten bei der E-Mobilität als abgehängt, sind jetzt aber bei technischen Zulassungen vorne. Auch Oliver Wyman-Experte Rilling sieht Chancen: „Was Akzeptanz in der Bevölkerung angeht, liegt Europa bei E-Fahrzeugen deutlich vor den USA. Diesen Vorteil eines schon weiter entwickelten Marktes sollten die europäischen Start-ups konsequent ausnutzen.“

 

Über die Analyse

Seit dem Jahr 2017 analysiert der „Mobility Start-up Radar“ von Oliver Wyman jährlich mehr als 20.000 Start-ups weltweit in den Innovationssektoren Mobilitätsdienste, Fahrzeug- und Infrastrukturelektrifizierung („Green Vehicles“), autonomes und vernetztes Fahren sowie Sales und Aftersales.

Über Oliver Wyman

Oliver Wyman ist eine international führende Strategieberatung mit weltweit über 7.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in mehr als 70 Städten in 30 Ländern. Wir verbinden ausgeprägte Branchenexpertise mit hoher Methodenkompetenz bei Digitalisierung, Strategieentwicklung, Risikomanagement, Operations und Transformation. Wir schaffen einen Mehrwert für den Kunden, der seine Investitionen um ein Vielfaches übertrifft. Oliver Wyman ist ein Unternehmen von Marsh McLennan (NYSE: MMC). Unsere Finanzstärke ist die Basis für Stabilität, Wachstum und Innovationskraft. Weitere Informationen finden Sie unter www.oliverwyman.de. Folgen Sie Oliver Wyman auf LinkedInTwitterFacebook und Instagram.

 

Pressekontakt
Aleksandar Nikolov

Oliver Wyman
E-Mail: aleksandar.nikolov@oliverwyman.com
Tel.: +49 152 545 600 89

 

 

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