Großeinkauf per Smartphone: Der Wettlauf beginnt
July 04, 2021
München – Dem Lebensmittel-Einzelhandel in Deutschland steht ein massiver Umbruch bevor: Online bestellen und liefern lassen – dieses Konzept bietet erhebliche Chancen für Verbraucher und Anbieter gleichermaßen. Laut einer Studie der Strategieberatung Oliver Wyman hat kaum ein zweites Land in Europa einen so hohen Nachholbedarf bei der Digitalisierung des Lebensmittel-Einkaufs wie Deutschland. Um die aktuell noch zögerlichen Supermarktgänger zu überzeugen, bringen sich Lieferdienste aus dem Start-up-Sektor in Stellung. Klassische Einzelhandelsketten müssen mit eigenen Lieferoptionen reagieren – oder sie werden überrollt.
Den Wochenend-Einkauf am Smartphone erledigen, anstatt einen Metallgitterwagen durch Supermarkt-Gänge zu schieben? Für die meisten Menschen in Deutschland kommt bequemes Online-Shopping von Frischwaren noch nicht in die Tüte: Nur jeder Zehnte hat in den vergangenen drei Monaten in einem Online-Supermarkt eingekauft. Stattdessen wuchten die meisten in gewohnter Manier höchstpersönlich Tüten in den Kofferraum oder tragen sie nach Hause. „Deutschland hat enormen Nachholbedarf beim Online-Einkauf von Lebensmitteln“, sagt Alexander Pöhl, Principal bei der Strategieberatung Oliver Wyman und Co-Autor der Studie. „Wir erwarten eine rasche Trendwende hin zu mehr Online-Einkäufen. Die europäischen Nachbarn machen es schon vor: Eine Online-Welle rollt quer durch Europa, die deutschsprachigen Länder sind kurz davor, erfasst zu werden.“
Die aktuelle Analyse von Oliver Wyman zeigt, welches Potenzial im deutschen Lebensmittel-Einzelhandel brach liegt. 41 Prozent der Spanier, 40 Prozent der Franzosen und 32 Prozent der Engländer haben im vergangenen Quartal bereits einen Online-Supermarkt genutzt. Deutschland ist in dieser Hinsicht mit zehn Prozent Schlusslicht unter acht untersuchten Ländern, vergleichbar niedrige Online-Werte weisen nur Österreich (11) und die Schweiz (15) auf. Die meisten Stammkunden im Online-Segment finden sich laut Studie in England mit 17 Prozent – sie geben einen Online-Shop als Hauptbezugsquelle ihrer Lebensmittel an. Hier können Deutschland (3), die Schweiz (3) und Österreich erst recht nicht mithalten (2). Befragt wurden die Konsumenten in der repräsentativen Studie im April 2021.
Der Deutsche möchte die Kiwi drücken
Woher rührt die Zurückhaltung? In Deutschland war der meistgenannte Grund laut Studie der Wunsch, die Produkte selber zu betrachten oder zu testen. Auch die Sorge, nicht die beste Produktqualität zu erhalten, treibt die Kundschaft noch in die Läden. Erst als drittwichtigstes Hemmnis gelten die als zu hoch empfundenen Lieferkosten. „Die Anbieter haben es selbst in der Hand, sich das Vertrauen durch gute Produktqualität und hohen Service zu erarbeiten“, sagt Rainer Münch, Partner und Leiter der Handels- und Konsumgüter-Praxisgruppe bei Oliver Wyman in Deutschland. Die Faustregel für Kundenbindung: „Wer dreimal solch einen Bestelldienst probiert und jeweils zufrieden ist, bleibt dabei. Wir gehen von hoher Kundentreue aus.“ Entsprechend wichtig ist eine gute Positionierung in der Frühphase des Marktes.
Auf Anbieterseite zeichnet sich in Deutschland ein spannendes Wettrennen ab: „Insbesondere die traditionellen Supermärkte, die sich zuletzt gut gegen die Discounter behaupten konnten, stehen nun vor einer neuen Herausforderung“, sagt Münch. Gelingt es ihnen, die Online-Welle zu surfen? „Wenn sie kein ansprechendes Angebot für die Verbraucher entwickeln, laufen sie Gefahr, von neuen Online-Supermärkten wie Picnic oder Express-Lieferanten wie Gorillas oder Flink überrollt zu werden“, warnt Münch. Diese Kuriere punkten mit Flexibilität und Schnelligkeit, ihre Zwischenlager haben sie oft innerstädtisch in ehemaligen Non-Food-Geschäften in B- und C-Lagen aufgebaut, um von dort zum Auftraggeber zu flitzen. Die Express-Anbieter fokussieren sich auf urbane Zielgruppen. „Sie kämpfen strategisch um eine hohe Abdeckung und Präsenz in Großstädten und Mittelzentren.“
In den Startlöchern stehen neben den mit viel Wagniskapital ausgestatteten Angreifern auch Essens-Lieferdienste wie Lieferando oder Wolt. Deren Fahrer wollen der Kundschaft ebenfalls in Zukunft gegen Gebühr Einkäufe im lokalen Einzelhandel abnehmen. Der klassische Lebensmittel-Einzelhandel kann sich laut Münch über Auslieferkonzepte für Großeinkäufe gut positionieren. Der Experte erwartet einen hohen Wettbewerbsdruck: „Wer mit vielen verfügbaren Slots, kurzen Lieferzeiten und guter Qualität punktet, kann auch ehemalige Stammkunden anderer Märkte für sich einnehmen.“
Online-Kunden schauen nicht auf den Euro
Eine komplette Verdrängung der klassischen Supermärkte sei nicht zu erwarten, sagt Pöhl. „Es wird immer eine Berechtigung für stationären Handel geben.“ Doch die geschickte Verknüpfung aus beiden Welten – sogenannte Omnichannel-Modelle – verspreche Mehrumsätze. „Es lohnt sich für Anbieter, einen zusätzlichen Fokus auf Online-Bestellungen zu legen. Die angesprochene urbane Kundschaft ist attraktiv, weil sie tendenziell nicht auf den Euro schaut“, sagt Pöhl.
Die Zurückhaltung der Deutschen könnte bald bröckeln, denn die Corona-Krise hat viele Menschen erstmals ans Thema Online-Shopping und Lieferdienste herangeführt. „Manche haben es in dieser Ausnahmesituation ausprobiert und den Charme solcher Bestellungen für sich entdeckt.“
Über die Analyse
Für die Oliver Wyman-Befragung zur Kundenzufriedenheit im LEH wurden mehr als 10.000 Kundenantworten aus insgesamt acht europäischen Ländern (Deutschland, Österreich, Schweiz, England, Frankreich, Spanien, Belgien und den Niederlanden) ausgewertet. Die Befragung wurde im April 2021 durchgeführt.
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