Quick Commerce in Deutschland: Gekommen, um zu bleiben

München Schnelle Lieferdienste wie Flink und Getir etablieren sich als Alternative zum stationären Lebensmitteleinzelhandel. Eine Umfrage der Strategieberatung Oliver Wyman zeigt, dass viele Kundinnen und Kunden der sogenannten Q-Commerce-Anbieter (Quick Commerce) sich inzwischen regelmäßig ihren Wocheneinkauf nach Hause bringen lassen. Der Wettbewerb innerhalb der Q-Commerce-Branche bleibt dabei intensiv. Denn die Oliver Wyman-Erhebung offenbart auch, dass die einzelnen Dienstleister bislang kaum Loyalität bei Verbrauchern aufbauen konnten. Für die Kundschaft zählen bei der Auswahl eines Anbieters vor allem Preis und Liefergeschwindigkeit – beides kann mithilfe der Bestell-Apps vor jedem neuen Auftrag in Echtzeit abgeglichen werden. Im Vergleich mit Frankreich und den Niederlanden zeigt der deutsche Markt eine größere Reife. Das führende Discounter-Land liegt damit auch beim Quick Commerce vorne. Der Wert des durchschnittlichen Warenkorbs ist hierzulande am höchsten, gleiches gilt für die Kauffrequenz.

Den Lebensmittel-Einkauf binnen Minuten erledigen – und das, ohne die Wohnung zu verlassen. Mit diesem Versprechen locken seit Mitte 2020 schnelle Lieferdienste wie Gorillas, Flink und Getir die Verbraucher in deutschen Städten. Inzwischen gelingt es den sogenannten Q-Commerce-Anbietern (Quick Commerce) zunehmend, dem stationären Lebensmitteleinzelhandel Umsätze streitig zu machen. Laut einer Studie von Oliver Wyman erledigen viele Kundinnen und Kunden mit der Bestellung bei einem schnellen Lieferdienst schon einen beträchtlichen Teil des Wocheneinkaufs. „Die Quick-Commerce-Anbieter haben überraschend schnell bewiesen, dass ihr Geschäftsmodell nicht nur Spontankäufe bedienen kann“, sagt Jens von Wedel, Partner mit Schwerpunkt Handel und Konsumgüter bei Oliver Wyman. „Damit haben sie das Potenzial, sich zu einer ernsthaften Konkurrenz für Supermärkte zu entwickeln.“ Obst und Gemüse sowie Milchprodukte liegen ganz vorne bei den bestellten Produkten. „Fertigprodukte dagegen spielen eine untergeordnete Rolle“, sagt von Wedel. 2.100 Q-Commerce-Nutzerinnen und -Nutzer aus Deutschland, Frankreich und der Niederlande nahmen an der Umfrage teil – ein Drittel davon in Deutschland.

Knapp die Hälfte (47 %) der Q-Commerce-Kunden in Deutschland beauftragen den Service zwei bis vier Mal im Monat. Mindestens fünf Mal im Monat werden die Lieferdienste von acht Prozent genutzt. „Die Zahl der Heavy User ist hoch“, sagt von Wedel. Mehr als ein Drittel (36 %) der Nutzer veranschlagen den Anteil ihrer Q-Commerce-Ausgaben am gesamten Budget für Lebensmittel auf 20 bis 39 Prozent. „Viele Q-Commerce-Kunden haben ihr Einkaufsverhalten spürbar umgestellt“, erläutert von Wedel. Die Hälfte (50 %) der Befragten lässt sich regelmäßig von Flink und Co. sogar den kompletten Wocheneinkauf bringen. „Das geht vor allem zulasten von Supermärkten oder Discountern.“ Denn mehr als die Hälfte (51 %) der Q-Commerce-Nutzer würden laut Erhebung auf den stationären Einzelhandel zurückgreifen, wenn es die schnellen Lieferdienste nicht geben würde – nur 22 Prozent dagegen auf alternative E-Commerce-Anbieter im Food-Segment, deren Modelle längere Bestellvorläufe vorsehen. Die Oliver Wyman-Experten sprechen von Q-Commerce bei einer Lieferzeit von höchstens 30 Minuten.

Höhere Kosten im Vergleich zum Supermarkt

Für den schnellen Lieferservice akzeptieren die Nutzer Mehrkosten – allerdings oft, ohne es zu ahnen. Die Mehrheit der Befragten hält Q-Commerce-Anbieter für vergleichbar teuer (60 %) oder sogar billiger (17 %) als stationäre Händler. Eine Analyse typischer Warenkörbe im Rahmen der Studie zeigt das Gegenteil. Die Kosten lagen beispielsweise bei Flink um fünf bis 16 Prozent höher als im Supermarkt. Dazu kommen noch die Lieferkosten. „Je geringer der Wert der Warenkörbe, desto stärker schlagen die Lieferkosten zu Buche“, sagt Moritz Küntzler, Principal Handel und Konsumgüter bei Oliver Wyman. Hier zeigen die Befragten eine hohe Toleranz. Für einen binnen 30 Minuten gelieferten Warenkorb im Wert von 20 Euro halten 41 Prozent einen Aufschlag von zwei Euro für gerechtfertigt. Weitere 34 Prozent akzeptieren sogar Mehrkosten von bis zu fünf Euro.

Besonders ausgeprägt ist die Kauffreude in Deutschland mit einem Wert des durchschnittlichen Q-Commerce-Warenkorbs von knapp 31 Euro unter den Befragten. Die in der Umfrage ebenfalls betrachteten Nachbarländer Frankreich (ca. 29 Euro) und Niederlande (ca. 27 Euro) liegen hier niedriger. „Der Markt in Deutschland hat schon eine gewisse Reife erreicht“, sagt Küntzler. „Der mit einem Marktanteil von 40 Prozent führende Standort für Discounter ist damit auch ein Quick-Commerce-Land.“ Es sei jedoch ein Trugschluss, dass damit auch eine höhere Kundentreue einhergehe. „Preis und Liefergeschwindigkeit sind für die hiesigen Q-Commerce-Nutzer die überragenden Auswahlkriterien“, sagt Küntzler. „Mithilfe der Apps der einzelnen Anbieter lassen sich diese vor jeder Bestellung vergleichen – wer zu diesem Zeitpunkt der schnellste ist und gute Angebote hat, bekommt den Zuschlag.“ Für die Q-Commerce-Dienstleister bedeutet das: „Sie müssen ihre Kostentreiber weiterhin optimieren, um im Kampf um Marktanteile zu bestehen“, sagt Küntzler.

Wirtschaftlichkeit vor Reichweite

Den Gesamtmarkt für Quick Commerce veranschlagen die Oliver Wyman-Experten im Jahr 2022 in Deutschland auf etwa 500 bis 700 Millionen Euro – das entspricht weniger als einem Prozent des gesamten Umsatzes im Lebensmittelsektor. Etwa 0,8 bis 1,0 Millionen Nutzerinnen und Nutzer haben die Lieferdienste beauftragt, schätzen die Berater. „Eine Herausforderung bleibt die Wirtschaftlichkeit des Modells“, sagt Jens von Wedel. „Bis heute hat kein Anbieter eine flächendeckende Wirtschaftlichkeit erreicht.“ Flink allerdings hat für Ende 2023 schwarze Zahlen in Aussicht gestellt. Als Hürde auf dem Weg in die Gewinnzone sieht von Wedel die personalintensive Zusammenstellung der Waren. Zudem erfordere die Auslieferung eine hohe Effizienz. „Diese Effizienz scheint vor allem in stark verdichteten Innenstadtgebieten erreichbar“, erläutert von Wedel. „Die Reichweite des Modells wird damit allerdings auf absehbare Zeit auf einen Teil der Bevölkerung beschränkt sein.“ In ländlichen Regionen fehle ein wirtschaftliches Konzept für Quick Commerce. „Das wird sich zunächst nicht ändern – der Fokus der Anbieter liegt im Moment darauf, den Turnaround zu schaffen.“

Die Konsolidierung des Q-Commerce-Markts hält angesichts der hohen Wettbewerbsintensität an. So hat die türkische Getir im Dezember angekündigt, das Berliner Start-up Gorillas zu übernehmen. „Es zeichnet sich ein Zweikampf mit Flink ab“, sagt von Wedel. An dem ebenfalls in Berlin ansässigen Unternehmen hat sich im Juni 2021 der Lebensmitteleinzelhändler Rewe beteiligt. „Das zeigt, wie ernst man dort die Konkurrenz der schnellen Lieferdienste nimmt“, sagt von Wedel. Die Wachstumschancen gehen über den reinen Lebensmittelhandel hinaus: Mehr als drei Viertel der Befragten (78 %) sehen Q-Commerce in Zukunft auch im Non-Food-Bereich als wichtigen Kanal.

 

Über die Studie
Für die Untersuchung wurden im Dezember 2022 insgesamt 2.100 Quick-Commerce-Nutzer in Deutschland (700 Teilnehmer), Frankreich und den Niederlanden zu ihrem Einkaufsverhalten und ihrer Zahlungsbereitschaft beim Lebensmitteleinkauf befragt.

Über Oliver Wyman
Oliver Wyman ist eine international führende Strategieberatung mit weltweit über 6.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in mehr als 70 Städten in 30 Ländern. Wir verbinden ausgeprägte Branchenexpertise mit hoher Methodenkompetenz bei Digitalisierung, Strategieentwicklung, Risikomanagement, Operations und Transformation. Wir schaffen einen Mehrwert für den Kunden, der seine Investitionen um ein Vielfaches übertrifft. Oliver Wyman ist ein Unternehmen von Marsh McLennan (NYSE: MMC). Unsere Finanzstärke ist die Basis für Stabilität, Wachstum und Innovationskraft. Weitere Informationen finden Sie unter www.oliverwyman.de. Folgen Sie Oliver Wyman auf LinkedIn, Twitter, Facebook und Instagram.

 

Pressekontakt
Daniel Hardt
Oliver Wyman
E-Mail: daniel.hardt@oliverwyman.com
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