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Wer hat künftig die Macht?

Trends im Lebensmittelhandel

CEO Interview-Serie

Marc Poulin, der frühere CEO der kanadischen Supermarktkette Sobeys, stellt sich den Fragen von James Bacos, Senior Partner der Retail & Consumer Goods Practice von Oliver Wyman. Das Gespräch fokussiert auf die aktuelle Verfassung des Lebensmitteleinzelhandels und dessen Zukunft. 

 

James: Bei unserem letzten Gespräch hattest Du gerade „The Retail Revolution“ fertiggestellt und damit zu prognostizieren versucht, was in der kommenden Dekade im Einzelhandel passieren wird. Sind Deine  Vorhersagen und Erwartungen eingetroffen? Was würdest Du rückblickend heute anders sehen? Und gibt es Einschätzungen, bei denen Du aus heutiger Sicht sagen würdest: „Vielleicht hatte ich unrecht“?  

Marc: Generell gelten die Prognosen unverändert; der Einzelhandel bewegt sich in die aufgezeigte Richtung. Doch die Revolution im Handel läuft langsamer als erwartet. Aber sie läuft, was ich insbesondere für den Lebensmittelhandel  beurteilen kann. Seit Erscheinen unserer Studie haben mehrere Anbieter erklärt, dass sie eigene Onlineplattformen aufbauen wollen. Sie sind vielleicht noch nicht implementiert, aber die Vorbereitungen laufen. Kroger sowie Sobeys mit Ocado sind hierfür gute Beispiele. Sie schaffen gerade die notwendigen Kapazitäten und könnten im Frühjahr 2020 in Nordamerika starten. Und wenn erst einmal einige große Anbieter in das Geschäft einsteigen, kommt es im  nächsten Schritt zu der von uns prognostizierten Beschleunigung.

Noch gibt es allerdings einige Hindernisse. Das größte liegt aus meiner Sicht in der fehlenden Priorisierung des Themas durch einige Topmanager. Sie behandeln es nicht mit der erforderlichen Dringlichkeit. Ein weiteres Hindernis ist die gute Verfassung der Konjunktur und die gute wirtschaftliche Situation der Verbraucher. Dies mindert den Veränderungsdruck im Handel; das traditionelle Geschäft läuft ja.

Interessant wird es, wenn es zu einer Rezession kommt. Da sich das Geschäft dann nicht mehr so gut entwickelt, steigt der Druck. Doch dann fehlen die  Ressourcen, um die erforderlichen Veränderungen in Angriff zu nehmen. Ich befürchte, dass Einzelhändler, die bislang untätig oder nur wenig tätig sind, in dieser Situation auf dem falschen Fuß erwischt werden.

James: Besteht das Risiko, dass es in den kommenden fünf bis zehn Jahren zu einer größeren Marktbereinigung kommt? 

Marc: Ich denke, wir reden eher über einen Zeitraum von fünf Jahren. Und es  besteht in der Tat ein deutliches Risiko. Ein Beispiel dazu: Kroger etabliert sich gerade in Florida, wo sie bislang nicht aktiv waren, und errichtet ein Lieferzentrum für das Onlinegeschäft. Dort gibt es auf der anderen Seite noch alteingesessene Supermarktketten, die im Internet gar nicht aktiv sind.

Es bahnt sich ein Zusammenstoß an. Wenn die Alteingesessenen so lange warten, bis sich herausstellt, ob die Kunden das neue Angebot annehmen, werden sie keine Chance mehr haben, das erforderliche Technologie-Know-how aufzubauen. Zudem erwarten alle eine Rezession oder eine Abkühlung der Konjunktur. Und die wird sich schmerzhaft bemerkbar machen – und das schnell. Denn schon geringe Umsatzrückgänge können den Gewinn stationärer Einzelhändler massiv schmälern. Natürlich ist es immer schwierig, den Zeitpunkt solcher Entwicklungen vorherzusagen. Damit steht auch noch das Urteil aus, ob sich die Wetten auf das Onlinegeschäft auszahlen. Wir wissen aber, dass sich die Technologie immer  weiterentwickelt und ihr Reifegrad steigt.

James: Nordamerika, insbesondere die USA, bleiben ein regional fragmentierter Markt. Es gibt einige landesweite Anbieter, doch viele Händler beschränken sich auf einzelne  Regionen. Gibt es auch künftig einen Platz für solche Einzelhändler oder entscheiden Größe und Technologie über den Erfolg, sodass kleinere Anbieter ausscheiden müssen?

Marc: Was die regionalen Anbieter meines Erachtens retten wird, ist die Tatsache, dass es die meisten E-Commerce- und Onlinetechnologien „as a Service“ geben wird. Bereitgestellt werden sie von Technologieanbietern oder von großen Handelsunternehmen, die in anderen Märkten tätig sind und ihre Technologie weiterverkaufen.

Die regionalen Anbieter können also weiterhin im Wettbewerb bestehen. Sie werden nicht so profitabel arbeiten wie Unternehmen, die auf Technologie gesetzt haben, doch dank ihrer Stärke im Filialgeschäft können sie bestehen. Instacart (ein Technologieunternehmen mit einem Zustell- und Abholservice für Lebensmittel am selben Tag) zeigt beispielhaft einen Bereich, in denen der Handel nicht mehr selbst aktiv werden muss. Schon heute nutzen es viele  Lebensmittelhändler zu vergleichsweise geringen Kosten. Auch in anderen Bereichen wie Analytics gibt es solche Modelle. Und das ist, Hand aufs Herz, eine gute Sache. Denn viele regionale Anbieter haben weder die Größe noch die erforderlichen Fähigkeiten, um so etwas zu entwickeln.

Interessant wird es zu beobachten sein, was mit den richtig kleinen Anbietern passiert, die davon ausgehen, dass sie ohne all diese Technologien überleben  können. Bei den größeren regionalen Spielern stellt sich zudem die Frage, ob sie nicht zu abhängig von Technologieanbietern werden und daher einige Dinge doch selbst in die eigene Hand nehmen sollten.

Der Schlüssel zum Erfolg wird jedoch für alle Anbieter darin liegen, sich einen echten Wettbewerbsvorteil in der Interaktion mit ihren Kunden zu erarbeiten – mit oder auch ohne Technologieeinsatz.

James: Meine Kollegen in China gehen davon aus, dass Alibaba, Amazon sowie weitere Technologieanbieter sprichwörtlich der Schwanz sein werden, der mit dem Hund wedelt. Letztlich werden sie auch Filialen in ihr Angebot integrieren. Ihre Strategie und ihre Eigentümer sind technologie- und nicht handelsgetrieben. Es entsteht eine völlig neue Welt. Geht die Entwicklung in diese Richtung oder bleibt dies eher Science-Fiction?

Marc: Das ist keineswegs pure Science- Fiction. Letztlich hängt die Wertschöpfung im Handel an der Kontrolle über die Beziehung zum Kunden. Bislang dienten dazu die täglichen Interaktionen in den Läden. Doch in der neuen Welt liegt der entscheidende Mehrwert selbst für klassische Einzelhändler in den Daten und der Fähigkeit, diese Daten zu nutzen, um ein besseres Einkaufsumfeld zu schaffen.

Damit wächst die Bedeutung von Technologie und Daten zu Lasten des physischen Angebots. Davon profitieren Technologieanbieter; ihr Einfluss auf die Kundenbeziehung steigt, was zu einer höheren Wertschöpfung führt.

Mit Blick auf ihren Mehrwert wage ich zu behaupten, dass sich über die Zeit der Einfluss der Technologieanbieter auf den Handel immer weiter erhöhen wird. Zugleich werden große Anbieter wie schon heute Alibaba mit Hema versucht sein, dieses Wissen und die damit verbundene Macht zu nutzen und selbst ein Filialerlebnis zu schaffen.

Die entscheidende Frage ist hierbei: Wie schafft man den direkten Kundenkontakt? Hier steckt künftig die Wertschöpfung. Daher, denke ich, werden regionale Anbieter mit Technologiefirmen zusammenarbeiten. 

Ihr Erfolg hängt davon ab, ob sie kreativ genug sind, die Daten zu nutzen, um die Beziehung zu ihren Kunden zu vertiefen. Das gilt im Übrigen für alle strategischen Partnerschaften. So hat Kroger Anteile an Ocado übernommen – ein intelligenter Schachzug, da man so die Basis für eine langfristige Zusammenarbeit mit einem Technologielieferanten schafft. Es geht nun darum, Wege zu finden, die weitere Entwicklung dieses Partners zu beeinflussen.

James: Der Mehrwert und damit die Macht im Handel liegt also bei den Personen oder Unternehmen, die die Kundenbeziehung kontrollieren. Sie fußt auf der Zufriedenheit  und Loyalität der Kunden. Meiner Beobachtung nach gibt es jedoch nur wenig neue Entwicklungen, um die Zufriedenheit und Loyalität zu fördern. Es gibt seit langem moderne Analytics-Methoden und Möglichkeiten, mehr über die Kunden oder den Einsatz ihrer Karten zu erfahren. Doch das Kundenerlebnis veränderte sich bislang kaum. Kommt es in den kommenden Jahren nun zu grundlegenden Veränderungen, auch mit Blick auf die Art und Weise, wie wir einkaufen? 

Marc: Die Dinge entwickeln sich. Aber Du hast völlig recht. Bislang hat  sich in Sachen Kundenerlebnis nur recht wenig verändert. Unser Modell sieht drei Herausforderungen: die Auftragsabwicklung, die Lieferung und die Schnittstellen. Letztere umfassen Kundeninteraktionen und alles darum herum. In der Auftragsabwicklung sehen wir eine wachsende Zahl an Möglichkeiten. Die Lieferservices entwickeln sich unabhängig; dazu tragen neue Technologien ebenso bei wie andere Entwicklungen.

Bei der Kundenschnittstelle hingegen gibt es kaum Fortschritte. Das hat zum Teil kulturelle Gründe. Eine Vielzahl technologiegetriebener Unternehmen wird nun einmal von Ingenieuren und  nicht von Marketingexperten geführt. Sie verstehen noch nicht, wie sie die  Wertschöpfung steigern können. Dabei müssten sie nur zugreifen. Derweil setzen die Onlineanbieter Maßstäbe in Sachen Erlebnis – dank des Einsatzes künstlicher Intelligenz.

In Montreal gibt es beispielsweise ein Unternehmen, das E-Commerce-Anbieter dabei unterstützt, Daten und Schnittstellen besser zu nutzen. Mit dem  Einsatz künstlicher Intelligenz erzielen sie gute Ergebnisse. Die traditionellen Filialanbieter verlieren so langsam den Anschluss, da die Onlinehändler ihre Kapazitäten kontinuierlich erweitern. Die Supermarktketten investieren einen zu geringen Teil ihrer Ressourcen in das neue Geschäft und ab einem bestimmten Punkt dürfte es schwierig werden, den Rückstand aufzuholen.

Die traditionellen Filialanbieter verlieren so langsam den Anschluss, da die Onlinehändler ihre Kapazitäten kontinuierlich erweitern.

James: Wenden wir uns nun einem  anderen Thema zu. Bislang sprechen wir über den sprichwörtlichen Elefanten im Raum: die Technologie, die damit verbundene Disruption und heute noch nicht bekannte Facetten der Geschäftsmodelle.

Wenn man auf einen solchen Elefanten starrt, übersieht man manchmal jedoch den zweiten Elefanten dahinter – in unserem Fall den Trend in Richtung Nachhaltigkeit der Geschäftsmodelle – verbunden beispielsweise mit der Frage, ob man jeden Tag Mangos von Brasilien in die Industriestaaten liefern muss. Wir beginnen, den Preis für unseren ökologischen Fußabdruck und die damit verbundenen Kosten in Form des Klimawandels zu bezahlen.

Meinem Gefühl nach wird dieses Thema für die Verbraucher immer wichtiger. Das gilt auf jeden Fall in Europa. Aber ich frage mich, ob es auch in Nordamerika zu einer Rückkehr zu althergebrachten Formen des Lebensmittelhandels kommen wird. In den vergangenen Jahren explodierte die Verfügbarkeit von Produkten. Noch vor einer Generation konnte man nicht einfach in den Supermarkt gehen und an jedem Tag im Jahr eine Mango kaufen. Die Frage ist, was passiert, wenn auf dieser Mango ein Etikett mit ihrer CO2-Bilanz klebt. Wird das die Kaufentscheidung beeinflussen?

Marc: Der Wandel kommt nicht über Nacht, sondern schrittweise. Mit Blick auf das Mango-Beispiel würde ich aktuell sagen, dass die Verbraucher noch nicht bereit sind, darauf zu verzichten. Ich weiß nicht, wie es bei Dir war, aber meine Großeltern haben erzählt, dass es eine Orange nur einmal pro Jahr zu Weihnachten gab. Für sie war das etwas ganz Besonderes. Wird die Welt dorthin zurückkehren? Es braucht vermutlich mehr ökonomische Fakten als nur ein Bauchgefühl, um diese Frage zu beantworten.

Dessen ungeachtet werden Lebensmittelhändler ihr Geschäft meines  Erachtens nicht mehr länger wie gehabt betreiben können. Sie müssen solche externen Entwicklungen berücksichtigen und sich zumindest überlegen, wie sie damit umgehen. So rückt beispielsweise das Thema der Lebensmittelabfälle stärker in das Bewusstsein der Verbraucher. Damit steigt der Druck auf den Handel, seine Lieferkette möglichst effizient zu gestalten.

Ausschlaggebend wird sein zu begreifen, welches Thema für welchen Kunden  wichtig ist. In Sachen Klimawandel  gibt es beispielsweise Bevölkerungsteile, die sich mit Leidenschaft damit beschäftigen, und andere, die es schlicht und ergreifend nicht interessiert. In der Vergangenheit bestand die Antwort traditioneller Einzelhändler auf solch kontroverse Themen darin, jeweils passende Konzepte zu entwickeln. Danach würde es Läden geben, die wie bisher funktionieren, und andere, die mehr Whole Foods gleichen.

Doch angesichts der Datenfülle und technologischer Fähigkeiten muss es dabei nicht bleiben. Heute sind verschiedene Angebote für verschiedene Communities denkbar, die sich mit einer einzigen Infrastruktur betreiben lassen.

Auch hier sind die Onlinehändler flexibler als Filialbetriebe. Amazon ist in der Lage, einen ökologisch sensiblen Kunden anders anzusprechen als einen Anhänger von Donald Trump, dem der Klimawandel egal ist.  Wer verschiedene Kundengruppen je nach ihren Präferenzen unterschiedlich ansprechen kann, erarbeitet sich neue Chancen am Markt.

James: Marc, das ist viel Stoff zum Nachdenken! Vielen Dank, dass Du Dir die Zeit für das Gespräch  genommen hast.

Marc: Es war mir ein Vergnügen. 

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