Rainer: Heute ist Finja Kütz zu Gast. Sie war zunächst 20 Jahre bei Oliver Wyman tätig, zuletzt als Geschäftsführerin Deutschland. Anschließend übernahm sie eine Vorstandsposition bei der UniCredit. Heute ist sie in verschiedenen Aufsichtsräten und als Industry Advisor tätig. Daneben engagiert sie sich ehrenamtlich, unter anderem bei Children for a better World und dem Landesbund für Vogel- und Naturschutz. Sie ist Mutter von drei Kindern und lebt in München. Liebe Finja, ich freue mich sehr, dass Du heute im Podcast Purpose vs. Profit bei mir zu Gast bist.
Finja: Rainer, ich freue mich sehr, mit Dir zu sprechen und zu diesem Thema besonders.
Rainer: Gerne möchte ich mit Dir drei Aspekte der Wertorientierung aufgreifen: Deinen persönlichen Werte-Gegenstand, den Du mitgebracht hast, die große moralische Frage Deines Sektors und eine der Lebensfragen von Max Frisch. Zunächst möchte ich Dich aber fragen: Welche Werte haben denn für Dich im Berufsleben eine besondere Bedeutung?
Finja: Die Frage ist gar nicht so einfach. Ich denke meistens gar nicht so viel über Werte nach, sondern bin ein extrem intuitiver Typ. Aber wahrscheinlich das, was mich alltäglich am meisten beschäftigt hat, ist, ob meine Neugier befriedigt worden ist, ob ich Möglichkeiten habe, meinen Tatendrang umzusetzen und ob ich Wertschätzung erfahren habe. Dann die Frage: Konnte ich meine Intuition leben? Aber ich glaube, das Einzige, wo ich wirklich bewusst sozusagen mich auseinandergesetzt habe, war erstens, ob ich meine Unabhängigkeit behalten konnte und dann mit den Menschen um mich herum menschlich umzugehen. Das sind die einzigen zwei Sachen, über die ich mir tatsächlich bewusst Gedanken gemacht habe. Alles andere war intuitiv.
Rainer: Intuition ist ja ein großes Thema, auch wenn wir über Werte sprechen, ganz allgemein. Was würdest Du sagen? Wo kommt die bei Dir her? Also: Was hat die Intuition geprägt?
Finja: Das kann ich ehrlich gesagt nicht so richtig beantworten. Aber ich weiß, dass sozusagen Gerechtigkeit für mich auch als Kind schon total wichtig war, so dass ich mich auf dem Schulhof ernsthaft geprügelt habe, um irgendwie Kinder, die aus dem Frauenhaus bei uns kurzfristig mal auf der Schule waren und gemobbt wurden, zu verteidigen – gegen Klassenkameraden – obwohl mir diese Kinder ehrlich gesagt total egal waren. Aber ich fand es unfair, dass sie so behandelt wurden. Aber wo dieses Gefühl herkam, dass das wichtig ist? Weiß ich nicht.
Rainer: Finde ich ein ganz spannendes Feld, diese Intuition. Wo sie herkommt, wie sie beeinflusst wird und wie stark sie sozusagen den Menschen gegeben ist oder inwiefern sie dann auch entwickelt wird. Aber ich glaube, es würde zu weit eintauchen in die Psychologie, wenn wir jetzt bei der Intuition bleiben. Bevor wir jetzt zur Intuition zu tief einsteigen in die Psychologie, kommen wir vielleicht zu der konkreten Wert-Diskussion und dem Gegenstand, den Du mitgebracht hast. Und ich sehe da etwas Rotes. Was ist es denn und was stellt es für Dich dar?
Finja: Ich habe einen roten Rucksack mitgebracht. Ich habe ehrlich gesagt lange überlegt, welchen Gegenstand aus meinem Arbeitsleben ich mitbringe, darum hast Du ja gebeten, der für mich einen meiner Werte darstellt. Ich habe ja gesagt, die einzigen Werte, über die ich wirklich nachgedacht habe – bewusst –, sind meine Unabhängigkeit und die Menschlichkeit im Umgang mit allen Menschen, mit denen ich zu tun habe. Und dieser Rucksack bedeutet für mich in gewisser Weise die Unabhängigkeit, weil er mir erlaubt hat, einfach dann dahin zu gehen und die Sachen mitzunehmen, die ich mitnehmen möchte, wenn ich sozusagen irgendwo hingehen wollte. Und auch dieses Gefühl von: Ich kann ins Büro laufen, ich hatte dann meine Turnschuhe da drin. Das war so eine Freiheit und die Möglichkeit, einfach auch den Ort zu wechseln und etwas Anderes zu machen.
Rainer: Würdest Du sagen, diese Unabhängigkeit als Wert macht einen großen Unterschied, ob Du das im Berufsleben oder im Privatleben siehst?
Finja: Also für mich war Unabhängigkeit auch ganz klar immer verbunden mit finanzieller Unabhängigkeit. Und das gilt sowohl im Berufs- als auch im Privatleben. Also finanzielle Unabhängigkeit im Berufsleben: Jetzt habe ich natürlich den Vorteil gehabt, dass ich immer gut verdient habe, so dass ich mir auch leisten konnte, irgendwann zu sagen: Ich höre jetzt auf. Oder wenn Ihr mir zu blöd seid, höre ich auf. Die Freiheit zu haben, ist ja schon viel wert. Aber ich habe auch dafür gesorgt, dass ich zum Beispiel nie irgendwelche Hypotheken hatte, die mich belastet haben, so dass ich diese Freiheit hätte aufgeben müssen. Und auch im Privatleben war mir immer wichtig, dass ich nicht finanziell abhängig bin in meiner Ehe. Ich habe zwar nie das Bedürfnis gehabt, irgendwie aus der Ehe auszusteigen, aber ich glaube schon, dass die Freiheit zu haben und zu wissen, ich kann auch alleine, mir immer wieder ermöglicht hat, einfach bewusst zu sagen: Ich will diese Beziehung auch.
Rainer: Fällt Dir ein Moment ein, wo Du sagen würdest, dass diese Unabhängigkeit im beruflichen Kontext mal besonders getestet wurde? Dass Du mit Dir gerungen hast, ob Du jetzt dieses Bekenntnis zur Unabhängigkeit dann auch in eine Entscheidung überführst?
Finja: Nein, gerungen nicht. Aber ich kann mich durchaus zum Beispiel an eine Nacht erinnern, wo ich da mal so eine dieser Glasdecken durchbrochen habe – kurz danach. Wo für mich völlig klar war: Irgendwie, wenn ich jetzt das und das nicht krieg, dann geh ich. Wo ich das Gefühl habe: Hier wird mir ungerechtfertigterweise irgendetwas vorenthalten, wo ich das Gefühl hatte, da bin ich jetzt aber qualifiziert und das steht mir jetzt zu. Und wenn das nicht akzeptiert wird, dann halt nicht.
Rainer: Welche Rolle spielen für Dich diesbezüglich Gleichgesinnte? Also bei Werten, aber auch beim Thema Unabhängigkeit, dass Du sagst, es ist Dir auch wichtig, von Menschen beruflich umgeben zu sein, die diesen Wert teilen?
Finja: Gute Fragen! Also privat ist es mir total wichtig. Ich fände es schrecklich, wenn mein Mann sich nicht genauso unabhängig zu uns bekennen könnte, wie ich das zu ihm tue. Beruflich würde ich jetzt nicht sagen, dass ich die Leute danach auswähle. Aber was ich schon erschreckend finde ist, wie häufig man doch auch – und da rede ich jetzt nicht irgendwie von Leuten, die einfach das Geld brauchen, um das Tagtägliche zu überleben –, sondern ich rede von Leuten auf der Ebene, auf der ich mich halt zum Großteil meines Berufslebens bewegt habe, wo es halt irgendwie doch so viel Geld verdient wird, dass man auch die Freiheit haben kann, und wie viele Leute da doch sich einfach abhängig machen und damit auch unfrei, einfach wirklich für ihre Überzeugungen im Berufsleben einzustehen und in gewisser Weise korrumpierbar sind. Und das fand ich immer sehr schwierig, dass diese Leute irgendwie dann allen möglichen Mist gemacht haben, wo man doch weiß, das ist eigentlich nicht das, was man jetzt machen möchte. Das macht häufig schon Entscheidungsprozesse in Unternehmen nicht einfacher.
Rainer: Hast Du für Dich erlebt, erfahren, dass dieser Wert der Unabhängigkeit auch eine Wirkung hatte auf andere, auf Deine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Teams? Und dass es was ausgelöst hat?
Finja: Der Wert an sich jetzt vielleicht nicht so stark. Ich glaube da ist eher diese Menschlichkeit im Umgang. Und wo er für mich ganz entscheidend ist: die Menschlichkeit dann, wenn es schwierig ist.
Rainer: Was ist ein Beispiel für eine schwierige Situation, wo Menschlichkeit einen großen Unterschied macht?
Finja: Jemanden zu kündigen. Es ist sicherlich irgendwie mit das Schwierigste, sowohl für die kündigende Person wie natürlich für die gekündigte Person, und das aber in einer Art und Weise zu machen, dass die gekündigte Person irgendwie in ihrer Integrität als Person sich nicht angegriffen fühlt, sondern trotzdem den Raum verlassen kann und für sich eine Zukunft sieht. Das fand ich immer so die Herausforderung, die ich mir zumindest gestellt habe. Und jetzt, es ist ein paar Wochen her, am Wochenende war ich mit meinem Mann im Englischen Garten spazieren, treffe ich auf der Straße jemanden, der mir um den Hals fällt: „Schön, Dich mal wiederzusehen!“ Das war auch so eine Person, die ich vor Jahren mal gekündigt habe und ich habe mich total gefreut, dass offensichtlich gelungen ist, das in einer Art und Weise zu machen, dass er nicht das Gefühl hatte, irgendwie ich habe mich einfach so unmöglich verhalten, dass er mich nicht irgendwie dann auch noch umarmen konnte zur Begrüßung.
Rainer: Finde ich ein schönes Bild: dieses Kündigungsgespräch, wo dann Werte auch getestet werden. Also wie sende ich dann auch? Würdest Du sagen, dass im Laufe Deiner Karriere, wo Du in diesen Situationen warst, dass Du da etwas verändert und entwickelt hast und dass Du auch für Dich reflektiert hast, wie so ein Gespräch vielleicht besser zu führen ist? Oder hattest Du früh schon intuitiv den richtigen Ton treffen können?
Finja: Nein, ich glaube, das mit dem Ton habe ich gelernt. Ich habe intuitiv das Bedürfnis gehabt, das vernünftig zu machen oder sozusagen respektierend zu machen. Aber das mit dem Ton hat schon eine ganze Weile gedauert, bis ich gelernt habe, wie wichtig es ist, einfach ganz klar auch anzusprechen, was nicht funktioniert. Und das auch im Raum stehen zu lassen und nicht irgendwie gleich wieder zu verwischen, weil das auch sozusagen akzeptiert werden muss. Aber dann ganz klar auch zu betonen, was Deine Stärken sind und vielleicht mal gemeinsam zu überlegen, was für ein Umfeld es sein kann, in dem diese Stärken auch zum Tragen kommen.
Rainer: Wenn wir vielleicht dann auch überleiten vom Thema Kündigung zum zweiten Themenblock, nämlich der moralischen Frage Profit vs. Purpose: Die Kündigung ist da manchmal gar nicht so weit davon entfernt von der Frage und da eben auch in den verschiedenen Branchen. In Deinem Fall würde ich mich gerne auf den Bankensektor konzentrieren und nach Deinem moralischen Blick fragen. Und zugespitzt fragen: Gehören die Banken denn zu den Guten für Dich?
Finja: Da frage ich mal zurück: Gibt es denn die Guten? Also selbst im gemeinnützigen Sektor gibt es ja alle möglichen Skandale: von Veruntreuung, Harassment und, und, und. Gibt es das, die Guten? Ich glaube es ja nicht. Ich glaube, dass alle Organisation immer die Vielfältigkeit der menschlichen Natur widerspiegeln. Und die ist nun mal an vielen Stellen auch einfach abgründig. So, das allgemein zu der Frage. Jetzt zu den Banken. Ich glaube, eine Sache ist ein bisschen schwierig, wenn man die Banken quasi mit anderen, also mit realwirtschaftlichen Sektoren vergleicht, und zwar der Punkt, dass in gewisser Weise bei Banken immer ein anderer Maßstab angelegt wird. Ich mache vielleicht mal zwei Beispiele. Wenn ich jetzt in ein Geschäft gehe und eine Hose kaufe. Jetzt weißt Du, ich bin sehr groß, die meisten Hosen passen mir nicht. Und dann sage ich „Ah ja…mmh?“ Und die Verkäuferin sagt: „Die steht Ihnen super, Frau Kütz! Wir müssen nur hier etwas ändern und da etwas ändern, dann ist die hervorragend.“ Und ich lasse dann diese Änderungen machen, nehme die Hose mit nach Hause – und es ist eine Katastrophe. Sie sitzt überhaupt nicht. Die ist dann aber auch so, dass niemand anderes sie tragen kann. Ich habe also das gesamte Kapital verschossen. Jetzt sagen meine Freunde: Ja, selbst schuld. Gehe ich zu einer Bank und sage, ich bräuchte jetzt eine Geldanlage und mir wird irgendein Blödsinn aufgequatscht und das Geld ist nachher weg, ist das Kapital auch weg. Was sagen alle? Das ist eine Unverschämtheit von der Bank! So. Das ist das eine Beispiel. Das andere Beispiel: Ich will irgendwie etwas kaufen. Das bin jetzt vielleicht nicht ich, sondern irgendwie eine Studentin. Toll, dieser Pullover, superschön, der ihr da angeboten wird. Da gibt es „buy now pay later“. Ja, das mache ich jetzt. Und ruckzuck ist die arme Dame in der Verschuldung. Wer ist jetzt schuld? Die Bank? Oder irgendwie der Einzelhändler, der den Pullover verkauft hat?
Also ich glaube, dieses Produkt Geld ist so abstrakt, dass die meisten Leute da keinen emotionalen Bezug zu haben. Und das führt dazu, dass wir, glaube ich, tendenziell das Verhalten schärfer beurteilen als in der Realwirtschaft. Ungeachtet dessen gibt es natürlich ziemlich viel Mist. Also zu dem, was ich vorher gesagt habe – es gibt keine Guten – gibt es natürlich auch bei den Banken viele Sachen, die irgendwie nicht gut laufen. Also ich meine, da braucht man gar nicht über CumEx zu reden. Meiner Oma wurde mit 82 ein Bausparvertrag verkauft. Was soll meine Oma mit einem Bausparvertrag? Die fand das ganz super, weil das war ja für ihren Sohn, also meinen Onkel. Der hatte nicht viel Geld und da konnte sie ja schon mal ein bisschen sparen. Aber eigentlich ist das eine Unverschämtheit. Irgendwie kurz bevor sie gestorben ist, hat mein Vater mich noch gefragt, ob ich jetzt helfen könnte, irgendwie sozusagen ihren Unterhalt zu bezahlen. Meine Oma hatte nicht viel Geld. Das kann man nicht machen. Also solche Sachen laufen natürlich schief und die laufen vielleicht aus demselben Grund in Banken an der ein oder anderen Stelle dann doch mal ein bisschen mehr schief, weil mein Eindruck ist, auch viele der Mitarbeiter der Banken keinen emotionalen Bezug zu diesem Thema Geld haben. Das ist was anderes, wenn ich ein Auto herstelle oder wenn ich irgendwie Kredite vergebe. Ich finde es total motivierend, irgendwie mit der Kreditvergabe tatsächlich so einen gesamtwirtschaftlichen Einfluss zu haben. Aber ich glaube, das ist so abstrakt, das finden viele Leute vielleicht nicht so motivierend. Und dann bleibt häufig für viele nur, selber Geld zu verdienen. Und das ist als Motivation nicht so cool.
Rainer: Jetzt sind natürlich die Banken, wie Du auch andeutest, am Ende Teil der Marktwirtschaft und müssen nach rationalen Kriterien auch wirtschaften und entscheiden. Gibt es Felder, wo Du Spielraum siehst für eine Bank, wertorientierter zu handeln und eben diese Wertorientierung auch systemisch in der Gesamtinstitution zu verankern?
Finja: Klar! Ich meine, es gibt ja eine ganze Reihe von Banken und die sind im Moment eher Nischenspieler, die sich auf einzelne Sektoren oder einzelne Themen fokussieren, wo sie sagen, da haben sie ganz klare Werte. Also GLS, UmweltBank, Tomorrow. Sie decken aber natürlich nicht das an Bankbedarf ab, was wir volkswirtschaftlich haben. Ich glaube, was halt wirklich spannend wäre, ist sich mal anzuschauen, wo denn jetzt im Kontext der großen Institute einfach Potenzial ist, das unter Umständen noch ein Stückchen anders zu machen. Wobei man natürlich auch sagen muss, dass irgendwie kein Sektor überhaupt schon so reguliert ist, was auch irgendwie Moral angeht. Das klingt jetzt komisch, weil Moral ist ja etwas, was eigentlich nicht reguliert ist. Aber ich meine, im Banking gibt es halt so etwas wie die Regel, was man einem Kunden überhaupt verkaufen darf. Also da gibt es schon ganz viele Ansätze. Aber trotzdem gibt es natürlich immer noch Themen, über die man streiten kann.
Rainer: Zugleich ist es natürlich so, dass von der Systemausrichtung bekommen diejenigen mit guten Einkommen und mit Sicherheit natürlich immer auch mehr Kredite und Zugang zu finanziellen Möglichkeiten als diejenigen, die noch am Anfang stehen und die weder die Sicherheiten haben noch das Einkommen, und die aber einen Schritt machen möchten. Siehst Du da Lösungen, wie auch der Finanzsektor noch stärker beitragen kann, dieses soziale Gefälle und die Ungleichheit zu adressieren? Oder ist der Sektor da einfach überfordert und das ist nicht die Rolle?
Finja: Ich glaube, da gibt es zwei Punkte. Das eine ist sozusagen das ganz einfache Risiko, was Du ansprichst. Und da hat der Sektor relativ wenig Handhabe. Wird es einfach, also a) ist es regulatorisch vorgegeben, aber b) ist es natürlich auch schwierig. Das ist halt so, als würdest Du sagen: Als Einzelhändler musst Du gewissen Kunden immer irgendwie eine Kasse zur Verfügung stellen, wo man gar nicht bezahlen kann, weil sie halt kein Geld haben. Das wird sich auch ein Einzelhändler nur bedingt leisten können. Insofern glaube ich, dass das ein Thema ist, was sicherlich gesellschaftlich zu lösen ist und nur bedingt, also nur ansatzweise von der Privatwirtschaft. Ich denke, wo die Privatwirtschaft aber schon etwas leisten kann, ist einfach genau zu überlegen: Was für Produkte brauchen denn diese Personen? Und diese Produkte halt mit möglichst wenig – ich sag jetzt mal „Firlefanz“, der unter Umständen Geld kostet – anzubieten und das halt irgendwie auf Wegen zu tun, die auch für diese Leute zugänglich sind. Was brauchen diese Leute? Die brauchen ein einfaches Konto. Die brauchen unter Umständen irgendwie ab und an irgendwelche Finanzierungen. Wobei: Ich bin halt sehr skeptisch, was das angeht. Wenn Leute irgendwie aus eigenen Mitteln Sachen nicht finanzieren können, dann kannst Du im Zweifelsfall im nächsten Monat auch die Sachen nicht finanzieren plus dann auch noch einen Kredit abstottern. Dann müssen wir andere Lösungen finden, sozusagen diese Person zu unterstützen.
Rainer: Ich komme noch mal zurück auf deine Oma, die mit 82 diesen Bausparvertrag abgeschlossen hat. Dahinter steckt ja auch unzureichende Aufklärung und Information. Und damit eine Entscheidung, die letzten Endes nicht bewusst diese Konsequenzen eingeht, sondern unbewusst. Das kann man sicherlich erweitern, wenn man sich Dispozinsen und Ähnliches vor Augen führt, wo auch vielen nicht bewusst ist, was da eigentlich passiert. Gibt es da Raum für mehr Schutz auch der weniger Informierten? Oder glaubst Du, man kann über das hinaus, was gesetzlich vorgeschrieben ist, da nicht mehr viel tun und es wird ja formell alles zur Verfügung gestellt – im Kleingedruckten, in Anhängen, in irgendwelchen Links, die ich erst öffnen muss, um zu verstehen, was da passiert. Oder ist das ein Ansatzpunkt, wo wir auch moralischer werden könnten?
Finja: Also zum Ersten: Seit meine Oma diesen Bausparvertrag bekommen hat, gibt's halt eine ganze Reihe an neuen Regularien, die Banken sehr stark darauf verpflichten zu schauen, wem sie was verkaufen. Da gibt es immer noch Sachen, die nicht optimal laufen. Aber ich glaube, da ist regulatorisch schon ziemlich viel gemacht. Ich bin mir nicht so sicher, ob Regulatorik jetzt wirklich die beste Lösung ist an der Stelle. Man muss natürlich auch sehen: Was passiert denn Falsches bei Banken? Entweder ist es halt sozusagen das Risiko, dass Leute Geld sich leihen, wo sie es sich eigentlich nicht leisten können, die Schulden zu begleichen bzw. die Zinsen für die Schulden zu zahlen. Das ist ein Thema. Und das andere Thema ist, dass Leute Geld anlegen und dann nachher verlieren. Was sie sich eigentlich nicht leisten können, dieses Geld zu verlieren. Beim zweiten Thema ist das so, wenn das Geld nicht verloren ist, beschwert sich keiner. Nur wenn das Geld verloren geht, beschweren sie sich. Das heißt es war aber dieselbe Kaufentscheidung. Man darf nicht vergessen, dass die Leute mit ganz viel Gier an Geld ran gehen und da häufig irgendwie echt der normale Menschenverstand aussetzt.
Also irgendwie in den verschiedenen Boomphasen: Was habe ich an Anfragen gekriegt von Leuten! Nur weil sie dachten, ich kenne mich mit Banken aus, kenne ich mich auch mit Finanzanlagen aus... Ob ich jetzt dieses oder jenes kaufen soll und wo ich mein Geld investieren soll? Ich so: am besten langfristig in irgendwelche gemischten Werte. Und den meisten Leute sage ich einfach: Kaufe einen Standard-ETF. Aber jeder will dann von irgendeinem Boom partizipieren und dann setzt es aus. Ich glaube, das Einzige, was wir machen können an der Stelle, ist tatsächlich Finanzbildung, auch ein gutes Stück mit in die Schulbildung zu integrieren. Und da auch ganz klar dieses Risiko anzusprechen, dass man halt auf irgendwelche Hypes aufspringt. Und klassischerweise springt man halt als Retail-Investor auf, sozusagen, wenn der Hype schon da ist. Und dann ist es auch häufig gar nicht mehr so weit von der Spitze entfernt und dann kracht es halt.
Rainer: Wenn Du Dir was wünschen dürftest, wie sich der Bankensektor in den nächsten 20 Jahren verändert, durchaus auch mit dieser Werte-Perspektive. Gibt es da etwas? Gibt es etwas, wo Du sagst, das wäre noch eine schöne Entwicklung, die Du Dir wünschen würdest?
Finja: Eine schöne Entwicklung für die Banken, was Werte angeht… Ich glaube, das ist jetzt total unrealistisch, weil das nicht funktionieren wird. Aber ich fände es schon spannend zu sehen, wie das Banking aussieht, wenn die Gehaltsstrukturen im Banking so wären wie in anderen Industrien. In der Bank ist es so, wenn Du in gewissen Bereichen, also im Investmentbanking, große Deals heranholst für das Unternehmen oder handelst, partizipiert Du überproportional stark. Wenn Du für Bayer oder wen auch immer ein neues Medikament entwickelst, dann gehört irgendwie das Patent dem Unternehmen und Du kriegst vielleicht ein Bonus. Vielleicht ein 13. oder 14. Monatsgehalt. Und ich fände es spannend zu sehen, inwieweit sich das Verhalten der Banken und damit natürlich auch die Auswirkung der Banken auf die Realwirtschaft ändern würde, wenn die Vergütungsstrukturen im Banking ähnlich wären wie in realwirtschaftlichen Unternehmen.
Rainer: Spannend. Es leitet auch über zum letzten Teil unseres Gesprächs. Ich hatte Dich ja gebeten, aus dem Fragebogen von Max Frisch eine Frage auszuwählen, die wir noch gemeinsam vertiefen. Und Du hattest mir folgende Frage zurückgemeldet: Wenn Sie Macht hätten zu befehlen, was Ihnen heute richtig scheint, würden Sie es befehlen, gegen den Widerspruch der Mehrheit? Ja oder nein? Wie kamst Du auf diese Frage und was ist Deine Antwort?
Finja: Als ich die Frage gelesen habe, habe ich erst einmal gesagt: Das ist ja eine Unverschämtheit, so eine Frage. Und ich habe sie eigentlich ausgewählt, weil ich da richtig drüber geknobelt habe über dieser Frage. Und zwar gar nicht so sehr… – also ich glaube natürlich, das hat ja keinen Sinn, irgendwie Sachen zu befehlen, die die Leute nicht wollen. Ich habe viel Veränderungsprozesse begleitet und da sieht man ja, dass man sozusagen die Leute mitnehmen muss. Nur dann hat man eine Chance, dass diese Veränderung auch tatsächlich funktioniert. Insofern einfach irgendwas zu befehlen, funktioniert nicht. Aber ich habe dann überlegt: Was gibt es für Situationen, wo das vielleicht nicht so ist? Und ich habe irgendwann mal gehört, dass die Mütter und Väter des Grundgesetzes in Deutschland, ich glaube, es war tatsächlich direkt in dem Kontext, die Todesstrafe in Deutschland abgeschafft haben, obwohl damals die Mehrheit der Bevölkerung wohl gar nicht dafür war. Ich weiß jetzt nicht, ob das stimmt. Aber das habe ich mal gehört und das war so eine Situation, wo ich gedacht habe: Gut, also irgendwie dieser Wert der Menschlichkeit und dieses was gibt es eventuell für Themen, wo man doch einfach mal etwas durchsetzen muss und dann, vielleicht ist es dann halt so und dann realisieren alle, dass es okay ist. Und ich meine gerade auch im aktuellen Kontext, wo wir ja nun politisch durchaus irgendwie vor großen Herausforderungen stehen. Gerade was die Menschlichkeit angeht und die Berücksichtigung der Würde der Menschen ist halt die Frage: Gibt es da doch etwas, wo man manchmal einfach, wenn man die Macht hätte, die ausnutzen muss und wäre das dann gerechtfertigt?
Rainer: Was mich auch bei dem Satz noch beschäftigt hat, oder bei der Frage, ist die Mehrheit. Diese Bezugnahme auf die Mehrheit. Weil ich glaube, da gibt es natürlich auch immer einen großen Unterschied zwischen der artikulierten und der latenten Mehrheit. Und persönlich glaube ich, in vielen Momenten gibt es dann doch so einen Tipping Point, wo sozusagen die Latenz da ist für bestimmte Richtungswechsel. Und es geht dann vielleicht auch wieder um die Intuition, diesen Punkt eben auch zu treffen, weil ich glaube, wenn es eine faktische Mehrheit ist, die dagegen ist, mit wenig Latenz und wenig Öffnung, dann glaube ich, rächt sich das auch. Und das erleben wir ja politisch auch immer wieder, dass dann bestimmte Entscheidungen auch wieder zurückgenommen werden oder eben nicht zur Umsetzung kommen.
Finja: Ich finde es total schwierig, weil ich glaube, dieses Thema faktische und latente Mehrheit ist nun mal die Frage. Man hat vor allem immer die laute und die leise Mehrheit. Und häufig reagiert Politik auf die laute Mehrheit. Und ich glaube, häufig wissen wir gar nicht, was die eigentliche Mehrheit ist. Wir wissen halt nur, wer am lautesten schreit.
Rainer: Ja
Finja: Und dann ist es manchmal so, dass einfach einzelne Interessengruppen besonders laut schreien und sich dementsprechend durchsetzen können. Und anderen ist es dann vielleicht so… – vielleicht war das bei der Todesstrafe so? – die meisten Leute sind persönlich nicht betroffen, was ja ganz schön ist bei dem Thema, so dass vielleicht auch vielen Leuten das ehrlich gesagt nicht so wichtig war. Das ist irgendwie kein Thema, was irgendwie Dein Persönliches, Tagtägliches betrifft. Insofern ist es Dir dann auch egal und irgendwann gewöhnt man sich dran und dann ist es normal und dann ist es der Standard. Während halt bei Sachen, die mich tagtäglich betreffen, gewöhne ich mich halt nicht daran und dann werde ich eher laut.
Rainer: Finde ich auch spannend, was da jüngst passiert ist mit den Kundgebungen und Demonstrationen gegen Rechts, wo dann eben diese stille Mehrheit und diese latente Mehrheit dann eben auch mal sozusagen sich getriggert sah, sichtbar zu werden und ein deutlich stärkeres Signal zu senden, was eben auch die Mehrheit bewegt.
Finja: Ja, ich glaube, das war ganz wichtig, dass man da tatsächlich gegen den Extremismus auf die Straße gegangen ist und vor allem halt, das habe ich zumindest mitbekommen, gerade auch aus dem ländlichen Bereich in vielen Regionen, wo halt die extremistischen Parteien teilweise schon sehr stark sind, dass das natürlich irgendwie die Leute auch ermutigt hat und den Mut gegeben hat, dann sich da auch zu äußern.
Rainer: Sehr gut. Das ist ja ein wunderschönes Schlusswort. Da fällt mir wieder Dein roter Rucksack ins Auge, der sozusagen da wartet, um Dich in die Unabhängigkeit zu tragen oder getragen zu werden. Liebe Finja, ich denke Dir ganz herzlich für das Gespräch. Hat mir viel Freude bereitet, viel Spaß gemacht. Ich hoffe Dir auch.
Finja: Rainer, es hat mir total viel Spaß gemacht und im Sinne irgendwie Deines Podcasts vielleicht auf: Purpose AND Profit.
Rainer: Ja, sehr gerne.