Maximal 10 Minuten

Karl-Theodor zu Guttenberg und Rainer Münch

Karl-Theodor zu Guttenberg und Rainer Münch

30 min read

Double Quotes
Profit hat so eine durch und durch negative Konnotation. Ohne Profit ist man aber auch kaum lebensfähig als Individuum und auch nicht als Staat.
Karl-Theodor zu Guttenberg

Karl-Theodor zu Guttenberg ist zu Gast bei Purpose vs. Profit. Der ehemalige Spitzenpolitiker ist heute als Unternehmer, Autor, Dokumentarfilmer und Moderator aktiv. Im Gespräch mit Rainer Münch geht es um die Frage, wie viel Profitorientierung Deutschland tatsächlich braucht und welche Auswirkungen dies auf den Purpose hat.

Darüber hinaus sprechen die beiden über Themen wie seine persönliche Entwicklung, die enorme Bedeutung von Offenheit und Toleranz sowie die Rolle sozialer Medien. Zu Guttenberg teilt auch seine große Leidenschaft für die Literatur und gibt einen kleinen Ausblick auf sein bald erscheinendes Buch: "3 Worte: Neue Notizen aus der Gegenwart“. Wir wünschen eine erfolgreiche Veröffentlichung!

Das Gespräch wurde aufgezeichnet am 10. Juni 2025.

Den Podcast gibt es hier:  Apple Podcasts | Spotify | Youtube

Rainer Münch: Willkommen bei Purpose versus Profit. Ich bin Rainer Münch und ich unterhalte mich hier mit meinen Gästen über die Werteorientierung im Geschäftsleben. Mein heutiger Gast ist Karl-Theodor oder auch KT zu Guttenberg, aktuell Multi-Unternehmer und ehemals Spitzenpolitiker. Zur Aufnahme treffen wir uns in unserem Münchner Büro. Mein Gast hat eine Wohnung in München und kommt mit dem Fahrrad. Sein Auftreten ist unprätentiös, offen und nahbar. Ich frage ihn, wieviel Profit-Orientierung Deutschland jetzt braucht und was dann mit dem Purpose passiert. Wir sprechen aber auch über seine persönliche Entwicklung, die enorme Bedeutung von Offenheit und Toleranz, über die Rolle sozialer Medien und seine große Leidenschaft für Literatur. Ich habe KT zu Guttenberg als bemerkenswert reflektiert, selbstkritisch und weltoffen erlebt. Und nun viel Spaß mit der heutigen Folge.
Nach einer dynamischen Karriere in der Politik ist KT zu Guttenberg heute als Unternehmer, Autor, Dokumentarfilmer und Moderator tätig. Mit dem sehr zu empfehlenden Podcast "Gysi gegen Guttenberg“ setzt er seit zwei Jahren ein starkes Zeichen für einen konstruktiven Austausch und Dialog über politische Gesinnungsgrenzen hinweg. Seine Beobachtungen und Reflektionen aus dem Alltag teilt er mit großem Erfolg auf LinkedIn und zwischenzeitlich auch in Buchform. Im August erscheint sein zweites Buch "3 Worte: Neue Notizen aus der Gegenwart“, aufbauend auf dem Erfolg seines Erstlingswerks. Er ist Vater von zwei Töchtern und lebt wechselweise in Deutschland und den USA. Lieber Herr zu Guttenberg, herzlich willkommen bei Purpose vs. Profit.

KT zu Guttenberg: Eine Freude, heute bei Ihnen zu sein. Ein herausfordernder Titel des Podcasts und Herr Münch: Schön, Sie kennen zu lernen.

Rainer Münch: Herr zu Guttenberg, bevor wir auf dieses herausfordernde Spannungsfeld Purpose vs Profit eingehen, hätte ich zunächst eine persönliche Frage an Sie: In der öffentlichen Wahrnehmung gibt es ein Bild von Ihnen bis zum Rückzug aus der Politik und ein recht anderes nach der Rückkehr in die Öffentlichkeit. Mich würde interessieren, inwiefern sich aus Ihrer Sicht "diese beiden Personen“ unterscheiden. Hat da eine große innere Veränderung stattgefunden oder ist der Kontrast eher eine Frage der Darstellung und Wahrnehmung?

KT zu Guttenberg: Es ist natürlich die gleiche Person, aber eine Person, die Entwicklungen unterworfen ist, wie sie das Leben letztlich zeichnet. Und von daher ist, glaube ich, die Unterschiedlichkeit eher eine, die durch den Blick von außen, auch durch die Medien, noch mal hervorgehoben wird, die aber der eigenen Empfindung kaum gerecht werden kann. Das Leben ist ein Prozess. Und in dem Prozess ist man in den unterschiedlichsten Einschlägen unterworfen, ist Wandlungen unterworfen, aber bleibt hoffentlich der Gleiche, die gleiche Person sowieso, der gleiche Mensch ohnehin. Und vielleicht für manche in der Wahrnehmung von außen schon auch mal ein verändernder, sich verändernder Charakter. Das mag sein. Aber ich sehe diesen prozessualen Charakter einfach und von daher würde ich mich dem Blick nicht anschließen, dass man hier zwei vollkommen verschiedene Menschen hat. Das ist Unsinn.

Rainer Münch: Würden Sie sagen, dass Sie heute mehr Raum haben, authentisch zu sein, als früher?

KT zu Guttenberg: Ja, das mit Sicherheit, wenn man den politischen Teil des Lebens mit einbezieht. Nun war der ja nicht wirklich mein ganzes Leben. Ich bin heute schon maueralte 53, und das war ein Zeitraum, der etwa zehn Jahre umfasst hat. Also ist das ja auch letztlich nur eine Facette. Sicherlich eine sehr öffentlichkeitswirksame, eine, wo auch sehr grelles Licht auf einem ruhte und wo man gelegentlich sicher auch mal dieses Licht suchte. Aber es ist schon so, dass man in dieser Zeit als solches die Authentizität schleift und sie zum einen von außen geschliffen wird, aber in Teilen natürlich auch selbst sich darauf einlässt. Woran liegt das? An den Fliehkräften des politischen Geschäftes. Also Sie sind schon sehr, sehr von den Wuchten und Unwuchten als solches teilweise getrieben, teilweise entsprechend verplant. Und die Zeit zu reflektieren, die Zeit, immer mal wieder seinen eigenen Charakter zu überprüfen, die Zeit, sich Gedanken zu machen, wie viel ist von meiner Unabhängigkeit noch da, was ja auch ein Teil einer, zumindest nach meinem Verständnis, der Authentizität ausmachen kann, wird immer geringer. Und ebenso gering wird die Zeit, die man mit den Menschen verbringt, die der Authentizität am nächsten sind. Und wenn plötzlich die Authentizität rein nur noch politisch bestimmt wird oder sich von ihr formen lässt, dann läuft etwas schief. Und das war sicher auch einer der Gründe, warum ich irgendwann gesagt habe: Ich muss aus dem Geschäft auch wieder raus.

Rainer Münch: Würden Sie denn sagen, dass sich die Welt da weiterentwickelt hat und dass die Rahmenbedingungen heute anders sind als noch zu Ihren Zeiten als aktiver Politiker? Oder ist das weitgehend unverändert?

KT zu Guttenberg: Ich glaube, sie ist noch ein bisschen unerbittlicher geworden, sie ist noch ungnädiger geworden und sie ist noch gehetzter geworden. Das Gehetzte zeigt sich darin, dass man noch weniger Zeit hat, sich auch mal Gedanken über die Substanz der Dinge zu machen, über die man entscheidet und die ja meistens nicht unerheblich sind, insbesondere wenn man in der Spitzenpolitik tätig ist. Und von daher ist, glaube ich, schon in den letzten fünfzehn Jahren einiges geschehen, das nicht auch zur Qualität politischer Entscheidungsfindung, auch medialer Begleitung, auch des jeweiligen Diskurses zwischen Politik und Bevölkerung und umgekehrt beigetragen hat. Da spielen viele Faktoren eine Rolle. Ich glaube, wir werden sicher heute noch mal etwas tiefer diskutieren, auch über die Kraft sozialer Medien. Man kann sich sicherlich streiten darüber, ob soziale Medien wirklich so viel verändert haben. Was sie aber gewiss verändert haben, ist der Zeitraum, in dem man heute reaktionsfähig sein muss in der Politik. Früher hatte man manchmal ein paar Stunden, manchmal eine Nacht, vielleicht auch mal ein paar Tage, um auf Anwürfe, um auf Anfragen, um auf investigative Dinge zu reagieren. Heute sind einem maximal zehn Minuten gegeben und diese zehn Minuten entscheiden darüber, ob man einen Shitstorm zu reiten hat oder zu durchreiten hat, oder ob man irgendwie so gerade noch mal mit einem blauen Auge davongekommen ist. All das trägt nicht zur Qualität in der Politik bei.

Rainer Münch: Gibt es da etwas, was Ihnen Hoffnung macht, dass sich das in Zukunft auch wieder bessern kann und die Rahmenbedingungen stärker werden für sehr gute politische Entscheidungen?

KT zu Guttenberg: Manchmal habe ich diesen Gedanken, dass es wahrscheinlich eines veritablen Orkans bedarf, um so etwas wie eine Katharsis auszulösen. Ob man sich das wünscht, ist eine ganz andere Frage. Ich glaube aber, dass wir in so einem Orkan stehen und dass wir – viele reden ja von einer von einer Welt, die in einem Multikriseneffekt gerade gefangen ist. Das mag richtig sein. Ich glaube, was dazukommt, ist, dass die Vernetzung vieler Krisen aufgrund der Entwicklungen der letzten Jahrzehnte, gar nicht der letzten Jahre, zumindest in der Wahrnehmung zugenommen hat. Eine Vernetzung hat es immer gegeben, aber die Wahrnehmung hat zugenommen und mit der Wahrnehmung dieser Vernetzung hat auch die Überforderung und die Überwältigung vieler Menschen zugenommen und die Unzufriedenheit gegenüber dem Politikschaffenden, weil man plötzlich nicht nur sich an zwei, drei Themen in irgendeiner Form kritisch versucht entlang zu hangeln und die oftmals sicherlich auch gegebenen Schuldigen in den Politikschaffenden sucht, sondern es sind viele und es sind es sind zahlreiche, zahlreiche Themen, wo diese Überforderung sichtbar wird. Und vor diesem Hintergrund glaube ich, dass das Verhältnis natürlich noch mal als solches schwer gelitten hat. Und da unterscheiden sich politisches Verhalten und politische Entscheidungsfindung und eben die Möglichkeit der Selbstüberprüfung, ob Dinge richtig oder falsch sind, schon, glaube ich, nicht unmaßgeblich von dem, was man vielleicht 10, 20, 30 Jahre vorher hatte.

Rainer Münch: Eine wichtige Rolle spielt in dem Kontext sicherlich auch die Werteorientierung, dann auch in der Politik, dass es einen gewissen Nordstern gibt, einen Kompass. Was ist da Ihre Beobachtung? Wo steuern wir da hin? Werden Werte wichtiger, zentraler für die Politik, für die Gesellschaft oder wird das gerade eher verwässert?

KT zu Guttenberg: Ich habe das Gefühl, dass beides ein wenig zutrifft und aber immer in der Übersteigerung. Also es ist wenig von dem sogenannten Middle Ground spürbar, dass man einfach sagt, man versucht zunächst einmal einen Schritt zurückzugehen und sich zu fragen: Muss es immer die Maximalforderung sein oder gibt es etwas, was auch noch konsensfähig ist und wo man auch zufrieden sein kann, dass man vielleicht nicht sein, das Hundertprozentige des eigenen Wertempfindens geliefert bekommen hat in einer Antwort oder in einer politischen Handlung? Aber dass man auch sagen kann, es wurde zumindest etwas erreicht. Und nun jonglieren einige mit Werten, die sie gar nicht selbst leben. Das erlebt man tatsächlich jetzt auch in alten Demokratien, insbesondere in den USA. Das nimmt aber auch bei uns zu. Andere gebrauchen den Begriff Werte, um letztlich sich lediglich in einer Ablehnung aktuellen politischen Handelns zu bewegen. Das ist etwas, was beispielsweise bei uns die AfD sehr erfolgreich bespielt, diese Klaviatur, aber teilweise auch ganz links außen. Also die Ränder bedienen sich dessen und damit werden Werte mit der Angst vor Verlust verbunden. Und für viele Menschen ist es auch die Angst vor dem Verlust von Werten, obwohl sie sich manchmal schwertun, diese Werte selbst zu formulieren und zu definieren. Und deswegen ist Ihre Frage so einfach nicht zu nicht zu beantworten. Ich glaube, dass man in der Politik manchmal gar nicht dazu kommt – jetzt komme ich wieder zurück zu dem, was Sie vorhin gesagt haben –, angesichts dieses ungnädigen Tempos, in dem man sich da befindet, überhaupt noch Werte durchzudeklinieren und diese Werte auch vorzuleben dann entsprechend, auch wenn man es gerne behauptet, und in der Umkehrung natürlich diese Erwartungshaltung wächst, weil es immer weniger erkennbar wird. Und das führt dann zu diesen Maximalhaltungen.

Rainer Münch: Wie würden Sie Ihre persönliche Werteorientierung beschreiben? Was ist Ihnen wichtig?

KT zu Guttenberg: Ich bin kein Eklektiker, was das anbelangt. Aber auch da trifft das zu, was ich am Anfang angesprochen habe. Manches ist ein Prozess. Ich bin in einem vergleichsweise konservativen Umfeld aufgewachsen, wobei das auch immer wieder durchbrochen wurde. Ich bin mit meinem Vater groß geworden, der zum einen teilweise brachial konservative Werte gelebt hat, zum anderen aber eine durch und durch eine Künstlernatur war. Er war Dirigent und war, er hat auch jedes Klischee eines Künstlers erfüllt mit Überzeugungen, die eigentlich ein absoluter Kontrapunkt zu seinen dann immer wieder fast krampfhaft gelebten konservativen Werten waren. Für mich sind Werte dahingehend entscheidend, wenn sie dazu beitragen, dass eine Gesellschaft zusammenhält und dass man es schafft, unterschiedliche Denkweisen und Überzeugungen zu überbrücken. Und auch da ist manchmal der Maximalwert wahrscheinlich nicht immer der hilfreichste. Also auch da schließt sich so ein bisschen ein Kreis zu dem, was ich vorhin gesagt habe. Und deswegen ist manches, was mich prägt und wo ich immer wieder mich auch darauf berufe, sind schon, sagen wir mal, die Gerüste, die sich bei uns im christlichen Abendland, im christlich-jüdischen Abendland herausgebildet haben, welche, mit denen ich mich selbst überprüfe, aber auch immer wieder versuche, eine Gesellschaft zu überprüfen, ohne dabei jetzt eine religiöse Knute walten zu lassen, sondern es ist ja manchmal wirklich sind es Vernunfterwägungen, die aus dem Schrecken, zu dem Menschen in der Lage sind, sich entwickelt haben und die über Jahrtausende hinweg Bestand hatten. Und hier muss man die Welt nicht ständig neu erfinden. Also da finde ich relativ viel, was sich bei mir spiegelt und wo ich aber dann auch immer wieder sage, man darf sich und die Menschen damit auch nicht überfordern, und das Koppeln mit der Überforderung, mit den Punkten, die wir gerade schon andiskutiert hatten.

Rainer Münch: Sie hatten in diesem Jahr das Pfingstfest genutzt, um in einem LinkedIn-Beitrag zum Thema Verständigung zu reflektieren. Zu Pfingsten soll ja laut christlicher Überlieferung der Heilige Geist die Jünger Jesu befähigt haben, viele Sprachen zu sprechen und zu verstehen und damit die Verständigungsbarrieren zu überwinden. Da stellen Sie die schöne Frage „Wir reden viel – aber hören wir auch zu?“. Sie schreiben, dass in der heutigen Gesellschaft mehr Brücken gebaut werden sollten, dass man sich zuhört und verständigt. Aber sie beobachten, dass an vielen Stellen das Gegenteil passiert, dass es immer fragmentiertere Milieus gibt, die in sich kommunizieren, aber immer weniger Brücken bauen. Das führt zu meiner Frage: Was können wir tun? Was kann ich tun, um das zu ändern, um dagegen zu steuern?

KT zu Guttenberg: Also zunächst einmal noch mal zurück zum Pfingstfest. Heute weiß kein Schwein mehr eigentlich, was das Pfingstfest eigentlich ist. Also ich würde sagen, es ist eher die Minderheit und die anderen, für die ist es ein willkommenes langes Wochenende. Und ich habe das zum Anlass genommen, um mir noch, mal mich einfach zu fragen: Was ist der Ursprung? Und daran muss man nicht glauben. An den Heiligen Geist und die Zungen, die vom Himmel kamen und all das, damit tue ich mich selbst auch schwer. Aber der Grundgedanke ist: es gibt ja zwei, die man anlegen kann. Einer ist ein hoch theologischer und das andere ist einer, den man übertragen kann auf uns heute. Und das ist das, was Sie genannt haben, nämlich: Ist man heute überhaupt noch zur Kommunikation in der Lage, um Barrieren zu überwinden? Und das bringt mich jetzt noch mal etwas konkreter zu den Werten, die Sie vorhin angefragt haben und zu Ihrem wichtigen Einwurf jetzt: Was kann jeder Einzelne tun? Ich glaube, und das klingt für manche ganz banal und für manche unglaublich schwierig: Begriffe wie Offenheit und Toleranz, weil das nicht immer zwingend das Gleiche ist. Begriffe wie eine oder Begriffspaare wie eine nicht spaltende Tonalität ist nun wirklich nicht etwas, wofür es einen Heiligen Geist braucht, noch ist es etwas, was man einfach mal mit leichter Hand erstmal von den Gewählten oder von Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen, fordern sollte. Da kann jeder bei sich selbst beginnen. Das kann jeder zu jedem Zeitpunkt des Tages an sich üben und mit sich üben. Und das ist wie ein Muskel, den man trainiert. Und wenn man Menschen, mit Menschen spricht und sie erstmal darauf anspricht, und sagt: Fühlen Sie sich als ein toleranter und offenherziger, offener Mensch? Die meisten antworten erst mal aus der Hüfte mit Ja. Und wenn man dann etwas nachhakt und etwas tiefer geht und das an Themen festmacht, stellt man auch nicht selten fest, dass es nicht zwingend so weit hergeholt ist mit dieser grundsätzlichen Offenheit, dass auch Gelten lassen einer anderen Meinung, dass man reflektiert, dass man versucht, zunächst einmal respektvoll mit jemandem umzugehen, der möglicherweise eine diametral andere Ansicht hat. Und es ist wirklich kein Hexenwerk, das im Umgang miteinander zu pflegen. Und dieser Umgang oder diese Form des Umgangs hat in wirklich bedenklicher Weise gelitten. Nun ist es nichts, was jetzt in den letzten drei, vier Jahren mal so eben vom Himmel gefallen wäre, sondern es ist ein Entwicklungsprozess, der lange zurückgeht und den man in besonderer Zuspitzung gerade in den USA sieht. Aber auch nicht zu knapp bei uns in Europa. Auch auf anderen Teilen dieser Welt und in anderen Teilen dieser Welt. Und deswegen glaube ich, dass man, zu Ihrem Ausgangspunkt noch mal zurückkommend, dass man bei so vielen Dingen vergleichsweise schmerzfrei bei sich selbst beginnen kann, aber der Reflex eben da ist, zunächst einmal mit dem nackten Finger auf andere zu zeigen und es erst mal von anderen einzufordern, bevor man an sich selbst zu üben beginnt.

Rainer Münch: Wann kommen Sie an Ihre Grenzen, was Offenheit und Toleranz angeht?

KT zu Guttenberg: Dann, wenn eine harte andere Meinung mit der Bereitschaft zur Gewalt verbunden ist, wenn es mit dem Willen zur Degradierung anderer verbunden ist, wenn es einfach auf eine vollkommene Unfähigkeit stößt, sich auch einmal selbst einer gewissen Veränderung zu unterwerfen, die einfach was mit Mitmenschlichkeit zu tun hat. Dafür muss man gar nicht den hehren Begriff der Nächstenliebe bemühen. Aber Mitmenschlichkeit als solche ist schon eine, die zumindest in meinen Augen die Basis ausbilden sollte. Aber ich habe trotzdem eine gewisse Offenheit auch gegenüber jenen, die dazu noch nicht in der Lage sind, aber sich selbst eine gewisse oder sich selbst bereit zeigen, sich dem anzunähern. Und sowas geschieht nicht über Nacht. Und deswegen sollte man all jene auch nicht fallen lassen, wo man sagt: Mein Gott, wie kann man sich weiterhin so verhalten, wenn gleichzeitig erkennbar ist, dass da schrittweise in die richtige Richtung marschiert wird? Also deswegen: Ich habe meine Toleranzgrenzen, ohne Frage. Und das ließe sich wahrscheinlich an noch zahlreicheren Beispielen aufzählen. Und trotzdem bin ich in den letzten Jahren sicher auch nach dem Ausscheiden aus der Politik offener, toleranter geworden als ich es war, weil man eben dann manchmal auch in einem inhaltlichen Korsett gefangen ist, wo man dann für seine Überzeugungen manchmal auch nicht nur gnädig streitet. Und dazu habe ich jetzt nicht wirklich immer geneigt, aber manchmal einfach auch blind für irgendwelche Vorgaben aus einer Partei, wo man eigentlich möglicherweise gar nicht alle Inhalte teilt, aber dann sagt, auch da darf eigentlich keine, darf kein Entgegenkommen herrschen, weil man auf Teufel komm raus gerade diese Überzeugung durchsetzen muss. Was für ein Bullshit! Und ich glaube, dass politisches Handeln und Agieren insgesamt auf fruchtbaren Boden auch in der breiten Bevölkerung fallen würde, wenn diese Bereitschaft etwas offener vorgelebt würde.

Rainer Münch: Fällt Ihnen ein Beispiel ein, wo Ihre Offenheit zu einer ganz neuen Erkenntnis geführt hat, wo Sie auch sagen, vielleicht hätten Sie früher sich dem nicht so sehr geöffnet, aber jetzt mit einer Offenheit, mit einer Toleranz hat das einen Lerneffekt ermöglicht, den es sonst nicht gegeben hätte?

KT zu Guttenberg: Ach, zahlreiche. Das ist manchmal, würde ich sagen, dass das fast täglich der Fall ist. Aber das hat auch sehr viel damit zu tun, dass man, dass ich heute etwas mehr Zeit habe als damals im politischen Leben oder mir die Zeit nehme, mich etwas tiefer mit Begründungsmustern zu befassen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel, das ist aber jetzt schon relativ lange her, dass dieser Prozess eingesetzt hat. Ich komme noch mal zurück auf meinen etwas erstaunlichen Vater, der zu den sehr frühen Verfechtern der Umwelt- und Naturschutzbewegung zählte. Also auch schon Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre, wo jeder noch mit brüllender Häme auf diese Thesen eingeschlagen hatte. Und ich war da sehr lange auch skeptisch. Das lag auch daran, dass er einfach ein in der Wolle gefärbter Apokalyptiker war und ständig die Welt untergehen sah. Und ich habe mich dagegen reflexhaft gewehrt, teilweise auch mit ganz guten Argumenten, weil die Welt ist zumindest zu seinen Lebzeiten nicht untergegangen und sie hätte mindestens 70 mal untergehen müssen, so wie er das erwartet hatte. Und ich habe mich damals eher mit Schlagworten der Gegenseite mit seinen Thesen befasst und wir haben uns da oft gerieben, uns trotzdem gemocht, aber das gab es da auch schon mal Diskussionen und Streit. Und rückblickend muss ich sagen, insbesondere zu dem Zeitpunkt, da lebte er ja auch noch, wo ich dann mich einfach etwas verantwortungsvoller mit seinen Thesen befasst habe, ich sagen muss, er hatte in vielen Punkten sehr recht. Ich glaube, er hat nicht immer die richtigen Mittel gewählt, um es durchzusetzen, weil er in der Hinsicht keinerlei Toleranz für die Gegenposition hatte. Aber es hat mich zum Umdenken gebracht und es ist für mich heute ein ganz, es ist ein wichtiger Punkt in meinem Leben und etwas, wo ich einfach sage: Was bedeutet Verantwortung in einem Leben? Und man macht sie, wenn man das Glück hat, Kinder zu haben, an seinen Kindern und hoffentlich irgendwann Kindeskindern fest, aber man macht sie auch in der Fortdauer am Fortleben einer Gesellschaft fest. Und da sich zu korrigieren, ist nun wirklich nicht etwas, was bei dem hübsch geputzten Krönchen auf dem Kopf irgendeinen Zacken rausbrechen ließe, sondern das war einer der Punkte, wo ich mich sicher korrigiert habe. Ansonsten gab es Dinge, die im außen- und sicherheitspolitischen Bereich eine Rolle spielten, die in gewissen gesellschaftlichen Fragen eine Rolle spielten. Ich habe mich mal teilweise sehr, auch sehr hart - ich habe eine sehr katholisch lebende Familie -, von deren Lebensentwürfen nicht abgewandt, aber sie sehr kritisch begleitet. Heute sage ich: Warum kann man das nicht auch bewundern, wenn jemand damit glücklich wird? Ich würde es nicht, aber auch das sind so Wandel und Wechsel, die, was Wertemuster anbelangt, dann einfach genau diese neue Offenheit plus sicher auch die von mir gewonnene Gelassenheit im Leben wahrscheinlich dann hervorgerufen hat.

Rainer Münch: Sie hatten es vorher schon angeschnitten: Beim Thema Brücken bauen und aufeinander zugehen wird gerne erklärt, dass die Digitalisierung und diese Social-Media-Bubbles dazu führen, dass wir in der Gesellschaft mehr Fragmentierung und weniger Austausch beobachten. Zugleich gab es solche Entwicklungen in der Geschichte der Menschheit ja immer wieder, mit zunehmender Polarisierung und Fragmentierung, die dann schließlich kriegerisch aufgelöst wurden. Von daher meine Frage an Sie: Wird die Rolle der Medien da manchmal nicht überschätzt und liegt das Problem nicht tiefer?

KT zu Guttenberg: Ja, es liegt dahingehend tiefer, weil die Medien alleine nichts verändern, sondern letztlich die Menschen, die diese Medien nutzen. Und deswegen muss man immer bei Menschen ansetzen. Und es sind Menschen, die diese neuen Plattformen geschaffen haben, manche aus einfach teilweise ganz platten monetären Gründen, andere, weil sie am Anfang vielleicht glaubten, die Welt verändern zu können und irgendwas Gutes zu tun, um dann festzustellen, dass ihnen manches hehre Ziel einfach mit voller Wucht um die Ohren fliegt. Also ein Mark Zuckerberg kann davon, glaube ich, viele Geschichten erzählen, andere auch. Ob er es immer ehrlich tut, ist eine andere Frage. Und deswegen haben Sie hier einen guten Punkt. Ich glaube trotzdem, einen Unterschied zu sehen. Die historische Analogie ist richtig. Der Unterschied liegt in der wirklich teilweise atemberaubenden Geschwindigkeit, in dem sowohl diese Medien Wirkung erzielen, als auch diese Medien ihren Siegeszug hatten. Also wenn man das vergleicht, beispielsweise mit der Druckerpresse aus dem fünfzehnten Jahrhundert oder wenn man es vergleicht, welche Formeln genutzt wurden, um beispielsweise die Grundsätze der Aufklärung in die Bevölkerung hineinzutragen. Wenn man es vergleicht damit, wie mit welchen unterschiedlichen Geschwindigkeiten teilweise das Nutzen von Medien in unterschiedlichen Teilen dieser Welt sich entwickelt haben und dann plötzlich diese Teile der Welt in Interessenskonflikten aufeinandertrafen. Und dass das natürlich dann noch mal zu auch extremen, auch kriegerischen Konflikten führen konnte. Dann glaube ich, dass man ja, dass man Gemeinsamkeiten hier sehen kann. Aber dass heute noch mal einfach die Zeit und dieses, diese Geschwindigkeit des Eintreffens zu kritisch selbst und mit anderen zu überprüfen, immer knapper wird, weil die Entwicklungssprünge so gewaltig sind. Jetzt kam in den letzten Jahren noch mal dieser Durchbruch mit künstlicher Intelligenz dazu. Ich bin fern davon, das zu verteufeln. Aber ich bin-- gehöre jetzt auch nicht zu den, zu den unkritisch zukunftsgläubigen Jüngern, die sagen, das ist mit keinerlei Risiken verbunden. Die Risiken manifestieren sich ja teilweise schon. Auf der anderen Seite bietet es natürlich auch unfassliche Möglichkeiten, die Menschheit, der Menschheit letztlich Zukunftsperspektiven zu geben, die positiv sind und auch Umgangsformen wieder zu verändern. Und das Potenzial, man muss einfach sagen, es ist da. Wir können es nicht mehr wegdiskutieren. Es wird nicht, es wird sich nicht pulverisieren, sondern der Mensch muss lernen, damit umzugehen. Und ich habe da große Hoffnung. Ich bin alles andere als ein hoffnungsloser Mensch. Und ich glaube auch, dass man jetzt gerade mit den Schockerlebnissen der letzten Jahre, wo man gar nicht mehr wusste, um Himmels willen, was holt mich da jetzt ein?, dass dieser Aspekt der Kontrolle wieder wichtiger wird und auch greifbarer wird. Wenn man begreift, dass man es mit einer neuen Form, insbesondere bei der künstlichen Intelligenz, des, eines Werkzeugs... Werkzeugs ist ein falscher Begriff. Es gibt Mustafa Suleyman, einer der AI-Wunderkinder, die da draußen herumspringen, von vielen auch kritisiert. Aber der hat einmal ganz, der hat einmal ganz klug gesagt gehabt, und ich halte das für gar nicht so falsch: Der Mensch war immer in der Lage, Werkzeuge zu schaffen und hat dann diese Werkzeuge kontrolliert und aus dem kontrollierten Werkzeug ist eine Kaskade neuer Werkzeuge entstanden. So, mit künstlicher Intelligenz ist das jetzt ein bisschen anders, weil der Aspekt der Kontrolle einfach kaum mehr so greifbar ist. In dem Moment, wo das mehr und mehr Menschen begreifen, glaube ich, wird man sich schon auch in der Lage zeigen, sicher eine neue Form der Kontrolle und auch nicht der alleinigen, aber so herzustellen, dass einem das nicht komplett um die Ohren fliegt. Diese Hoffnung habe ich. Ich kann sie nur als Hoffnung derzeit formulieren. Weiter geht's nicht. Aber es geht auch darum, diesen Gedanken in die Öffentlichkeit zu tragen, weil sich alleine überwältigt und verzweifelt und perspektivlos zu fühlen, ist keine Antwort. Und diese Perspektivlosigkeit ist dann wiederum letztlich etwas, was die Rattenfänger an den Rändern wieder nährt. Und dann sind wir wieder zurück bei der Ausgangsdiskussion, wie sich das politisch entwickelt. Also hier schließt sich auch ein Kreis.

Rainer Münch: Wenn Sie es könnten, würden Sie Social Media beschränken?

KT zu Guttenberg: Nein, ich würde die, ich würde die Kompetenz der Menschen versuchen so zu entwickeln – und das hat sehr viel mit Bildung und Ausbildung, digitaler Bildung, digitaler Kompetenz zu tun, all das –, dass der Umgang damit, die ganzen negativen Seiten, die wir kurz schon mal angerissen haben, dass man die einzuhegen versteht. Mit der Beschränkung als solches ist nichts gewonnen, weil die Ausweichmöglichkeiten heute überall und jederzeit gegeben sind und die Menschen genau wissen mittlerweile, wohin man ausweicht. Es ist auch, ich glaube, eine hehre Romantik, einfach zu glauben, dass sich jetzt irgendwann ein globales Regime herausbilden wird, das gleich einer neu formulierten UN dann plötzlich versucht, soziale Medien zu reglementieren. Heute können Sie über einen VPN-Kanal, wenn Sie es irgendwo reglementiert haben und es ist, nehmen wir das Beispiel in Deutschland würde es noch mehr reglementiert, als es ja in Teilen schon reglementiert ist, darf man ja nicht vergessen. Es gibt ja durchaus eine Einschränkung auf europäischer Ebene, auch auf deutscher Ebene, also was Hate Speech, solche Sachen anbelangt. Vieles hat ja auch sein Gutes, ohne Frage. Nur wenn das überhandnimmt, sind wir an einem Punkt angelangt, wo Menschen mit einem Handgriff, und zwar da muss man kein Hexenmeister im Digitalwesen sein, mit einem Handgriff eben sagen können: Ah ja gut, das ist vielleicht…, ich nehme jetzt mal ein Beispiel, wo es vielleicht gar nicht der Fall ist, aber in Bolivien weit unreglementierter, also wähle ich mich, wähle ich mich über diese Dinge ein. Ausweichmöglichkeiten werden da immer gegeben sein. Deswegen glaube ich, verschenkt man Kraft, die man sehr viel mehr bräuchte in der Ausbildung digitaler Kompetenz, auch in der Entwicklung der Fähigkeit, nicht jeden Scheiß zu glauben, der einem da um die Ohren fliegt, in der Notwendigkeit des kritischen Denkens. Und das ist etwas, das muss, in meinen Augen muss das Platz greifen, viel mehr bereits in der frühen schulischen Ausbildung, in der Berufsbegleitung. Es ist, trifft alle Generationen. Und wenn man, wenn man sich mal umsieht und auch im unmittelbaren familiären Umfeld und mal schaut, wer hat denn wirklich digitale Kompetenz? Behauptet wird sie viel. Aber digitale Kompetenz beginnt nicht damit, dass man sich jetzt schnell, ähm, einfach mal bei IKEA einen Schrank bestellen kann. Zusammenbauen muss man am Ende wieder meistens selber oder man holt sich jemanden, der es einem macht. All das lässt sich dann übertragen auf andere Dinge. Also: Ich bin da eher liberal, ein bisschen weniger liberal, wenn es darum geht, dass wir einfach einen wahnsinnigen Nachholbedarf haben, was unsere Ausbildung und Schulausbildung anbelangt.

Rainer Münch: Ich würde dann gerne vom Digitalen zum Analogen kommen. Ich hatte Sie gebeten, einen Wertegegenstand mitzubringen, der für Sie etwas symbolisiert. Ich schaue hier auf ein Buch, etwas kleiner als A5-Format, mit Tauben und einem orangen Hintergrund und einem Konterfei, einem Bild von Ihnen. Es ist Ihr Buch „Drei Sekunden - Notizen aus der Gegenwart". Jetzt haben Sie mir gesagt, es geht hier nicht um eine Buchpromotion, sondern es geht darum, dass dieses Buch und Bücher für Sie eben einfach Ihre Werte auch sehr stark prägen und repräsentieren. Vielleicht können Sie das mal ein bisschen ausführen, was es damit auf sich hat.

KT zu Guttenberg: Ja, also das Letzte, was ich jetzt machen wollte, ist eigentlich dieses Buch mitzunehmen, um über dieses Buch zu sprechen, weil ich das tatsächlich jetzt nur stellvertretend für den Aspekt Buch gegriffen habe. Als ich die Wohnung verlassen hatte, lag es eben griffbereit gerade da. Ich hätte mir irgendeinen der vielen Romane greifen können, die bei mir zu Hause liegen und die jetzt nicht nur als Dekoration und ungelesen da liegen, um dann irgendwelchen Gästen zu zeigen, dass man vielleicht über eine halbseidene Bildung verfügt. Ich habe mir manchmal Gedanken darüber gemacht: Was würde man versuchen zu retten, wenn es zu Hause brennt? Und an vielen hängt eine nostalgische Erinnerung. Nur ist eine nostalgische Erinnerung etwas, die sich nicht zwingend an dem Gegenstand festmachen muss, sondern ich bin dann irgendwann zu dem Schluss gekommen, wenn es brennt, hoffe ich, dass ich zumindest die Werte mitbringe, die sich bei mir in meinem Kopf manifestiert haben. Alles andere ist endlich. Und es gibt keinen Tag, wo sich nicht neue Werte ergeben und erschaffen ließen. Und eine Erinnerung ist was Wunderbares, aber eine Vergangenheit ist auch unwiederbringlich. Und das kann man im Negativen wie im Positiven betrachten. Und das war ein Erkenntnisgewinn, für den ich eine relativ lange Zeit brauchte und für die ich auch eine Beschäftigung mit nicht nur positiven Aspekten meiner Vergangenheit erst mal überwinden lernen musste. Und ich habe dann eben festgestellt, dass die Unabänderlichkeit des Gewesenen eigentlich das Beste ist, was einem passieren kann, weil man sicher seine Lehren daraus ziehen muss, auch aus seinen Fehlern, die man gemacht hat und all das, aber sich damit nicht belasten muss. Und jetzt kann ein Wertgegenstand aus der Vergangenheit etwas fröhlich Stimmendes sein, aber es kann eben auch etwas Belastendes sein. Aber ich ziehe so unglaublich viel Positives und Fröhliches aus den Dingen, die mir in der Gegenwärtigkeit passieren und den Menschen, die mich umgeben, Momente, die ich erleben darf, dass ich davon einfach Abstand genommen habe. Und jetzt komme ich zu dem Punkt zurück: Warum ein Buch? Weil mich Weniges so innerlich öffnet, insbesondere wenn man im nicht immer nur gleichgängigen Alltag befindlich ist, als die Möglichkeit, in Literatur einzutauchen. Und manchmal verharrt man nach drei Seiten und reflektiert über einen Halbsatz, den man gelesen hat, der dann oftmals gar nichts mehr mit dem Buch zu tun hat. Oder man beginnt, eine Erzählung, eine Geschichte zu begreifen. Und das ist für mich, ist es dann oft eher wirklich Literatur/Belletristik als ein Sachbuch, die ich auch lesen muss, auch gerne lese. Aber es ist dann wirklich Literatur, die bei mir diese Öffnung erlaubt und auch diese zusätzliche Gegenwärtigkeit noch mal verstärkt. Und deswegen ist das für mich, glaube ich, wahrscheinlich, wenn ich etwas Haptisches nehmen sollte und Ihnen mitbringen und sagen: Was ist wirklich ein Wertegegenstand eines Tages oder einer Woche? Dann hätte ich wahrscheinlich zwei Romane dabei, und die sich natürlich in der Woche drauf wieder verändern. Ich werde immer mal wieder gefragt: Welcher Roman hat Ihr Leben verändert? Jeder, auf eine Weise. Und vielleicht jeder auch nicht. Aber er hat mein Leben geprägt. Und es ist ganz lustig: Ich merke ihn mir oft gar nicht, manchmal sogar gar nicht den Verfasser eines Romans. Manchmal geht der Plot bei mir verloren, aber ich weiß, dass er mir in dem Moment geholfen hat oder in dem Moment einfach eine, etwas Besonderes gegeben hat. So, jetzt gibt es manchmal auch absolut beschissene Romane, die legt man dann weg. Aber allein in der Auseinandersetzung mit wie schlecht man etwas geschrieben findet, ohne es aber gleichzeitig nur boshaft zu verurteilen, ist auch schon wieder ein Mehrwert geschaffen. Es ist nicht zwingend vergeudete Zeit. Und deswegen habe ich Ihnen heute einfach stellvertretend ein Buch mitgebracht. Das war zufällig meines, das klingt jetzt furchtbar eitel, sondern das war einfach das, was ich mir gegriffen hatte. Und das ist vielleicht die etwas ungewöhnliche Herangehensweise an diesen Wertgegenstand.

Rainer Münch: Würden Sie sagen, dieses künstlerische Schaffen und dieses künstlerische Werk mit Buch, mit Filmen, die Sie ja jetzt auch produzieren, ist auch so eine Verwirklichung von einem Lebenstraum für Sie?

KT zu Guttenberg: Es ist zumindest etwas, was ich wahnsinnig gerne mache. Und ich glaube, in jedem Mensch steckt eine eigene Kreativität. Und ob ich sie genügend abrufe, weiß ich nicht. Das mögen andere beurteilen. Ich weiß nur, dass es mir Freude macht und dass ich mich einfach gerne beispielsweise jeden Samstag hinsetze, um meine Kolumne zu schreiben. So, das dauert manchmal eine Stunde, manchmal kann es auch drei Stunden dauern, manchmal dauert es ein bisschen länger. Man nimmt sich Pause dazwischen und wenn man mit anderen spricht, die auch regelmäßig schreiben, die sagen, irgendwann ist es: um Himmels willen jetzt schon wieder und all das? Und was für eine Belastung! Ich empfinde das gar nicht als Belastung. Es ist wirklich, es hat was Befreiendes. Und deswegen: ja, ein Lebenstraum. Ich habe vorhin über den Unsinn von Vergangenheit gesprochen oder der Beschäftigung mit, der übermäßigen Beschäftigung mit Vergangenheit. Ebenso unsinnig ist es, sich ständig mit Zukunftsträumen zu befassen, weil sie nie so eintreten wird. Und deswegen ist dieser Begriff Lebenstraum für mich nicht wirklich etwas Zutreffendes, sondern eher etwas, wo ich sage: Das kann ich in dem Augenblick, wo ich das tue, als solches genießen. Ich habe immer gern geschrieben, habe mich lange nicht getraut, es zu veröffentlichen, was ein bisschen seltsam klingt, wenn man sonst die Öffentlichkeit ja nicht wirklich scheut. Als Jugendlicher habe ich schon gerne geschrieben und irgendwann hatte ich mir damals schon gesagt, es wäre schon schön, wenn man etwas mehr daraus machen könnte. Dann hat es halt ein paar Jahre gedauert, bis es dann wirklich so weit war.

Rainer Münch: Empfinden Sie dieses künstlerische Werk auch nochmal als besondere Verbindung zu Ihrem Vater?

KT zu Guttenberg: Ja, es ist so ein kleiner innerer Dialog, der immer mal wieder stattfindet mit ihm, obwohl er jetzt nicht mehr auf dieser Erde herumstapft. Aber wir haben uns viel über seine künstlerische Tätigkeit ausgetauscht. Das hat mir damals auch viel Freude bereitet, weil es für mich auch ein Ausbrechen aus meiner Routine war. Und genauso leidenschaftlich hat er über Politik geschimpft und gesprochen. Er hat mich immer ermuntert zu schreiben. Er hat sich das auch gewünscht, weil er kannte die Dinge, die ich unveröffentlicht hatte, habe ich ihm ab und zu mal was rübergeschoben. Und das war etwas, was er versucht hatte, bei mir immer noch ein bisschen mehr herauszufordern. Vielleicht war dann auch gerade deswegen so ein bisschen so eine Blockade oder Abwehr oder Gegenhaltung. Und ich ertappe mich manchmal, dass ich einen, einen jetzt - das ist jetzt kein Gespräch -, aber dass man das Gefühl hat, man tauscht sich noch mal post mortem über dieses Thema aus und das macht mir durchaus Freude.

Rainer Münch: Vielleicht jetzt zurück sozusagen zur Profanität von Purpose vs. Profit und auch im Politikkontext habe ich eine moralische Frage mitgebracht. Denn dieser Konflikt, dieses Spannungsfeld ist ja auch in der Politik omnipräsent, wenn man daran denkt Steuersenkungen oder Klimafonds, mehr Staatsverschuldung oder mehr Generationenvorsorge. Wie viel Profit-Fokus benötigt Deutschland denn aus Ihrer Sicht für eine stabile Zukunft?

KT zu Guttenberg: Mehr als manche Deutschland gerne zugestehen wollen und weniger als der eine oder andere Raffgeier es gerne verwirklicht sehen würde. Also das ist jetzt nicht eine typisch politische Antwort, sondern ich glaube, dass sich diese beiden Aspekte nicht ausschließen, sondern dass es eine vernünftige Grundlage geben muss, die wir über Jahrzehnte nicht hatten. Übrigens auch damals während meiner Mitverantwortung. Wo wir es einfach versäumt haben, die notwendigen Investitionen in dieses Land zu machen, um dieses Land so stabil aufzustellen, dass man genau die Dinge, die Sie im zweiten Atemzug genannt haben, dann letztlich sich auch noch besser leisten zu können, als wir es jetzt tun. Es gegeneinander auszuspielen heißt nur, dass man im Grunde die Gräben vertieft in einer Gesellschaft. Und wenn man das jetzt mit dem Begriff Profit verbindet: Profit hat so eine durch und durch negative Konnotation. Ohne Profit ist man aber auch kaum lebensfähig als Individuum und auch nicht als Staat. Als Unternehmen sowieso nicht. Und ich glaube, dass man durchaus dem Begriff Profit eine etwas positivere Konnotation geben muss, weil es letztlich dazu führt, ich gebe jetzt mal ein Beispiel: Wir haben jetzt ein wahnsinniges Paket plötzlich entschieden bekommen von einer Billion Euro. Und das war etwas, was davor brachial von einem Teil abgelehnt wurde, von dem anderen immer gefordert wurde, aber von dem anderen Teil eher so, dass man gesagt hat, damit versucht man alle zu beglücken, Schulden sind uns scheißegal. Andere haben gesagt, Schulden können uns nicht scheißegal sein, weil wir letztlich auch nicht mit voller Wucht gegen die Wand fahren können und es dann den nächsten Generationen einfach nur noch um die Ohren fliegt. Wenn man aber ein Investitionspaket auflegt und von vornherein sagt, es darf nicht profitabel sein, werden Sie eines nicht gewinnen, was man in einer solchen Phase auch braucht, nämlich Leute, die bereit sind, weil sie an ein Land glauben, auch zu investieren in dieses Land. Dann muss der Gedanke dabei, muss gegeben sein, dass das profitabel ist. Und das sind Investitionen, die brauchen wir von außen wie von innen. Und deswegen plädiere ich dafür, nicht sich nur von geifernden Profitdenken leiten zu lassen, aber Profitdenken zuzulassen, weil es am Ende letztlich auch am Profit liegt, ob man genug hat, um Klimaschutzmaßnahmen entsprechend wirksam sich leisten zu können, um entsprechend den Ärmsten auf dieser Welt helfen zu können, um Maßnahmen treffen zu können, dass eben die Fluchtursachen dort bekämpft werden, wo sie stattfinden und, und, und. All das kann man weiterführen. Aber sich alleine auf das Letzte zu verlegen und zu sagen: Das andere ist das komplette Gegenmodell, ist einfach hanebüchener Unsinn. Also diese, dieses Denken miteinander zu verschränken, ist genau das, worüber wir ja vorhin auch schon gesprochen haben, dass man beginnt in der Mitte, sich irgendwo mal zu treffen und zu sagen: Das eine kann ohne das andere nicht existieren. Ansonsten ist man einfach nur in romantischer Träumerei gefangen. Und da läuft man eben Gefahr. Und in der heutigen Verkürzung der Kommunikation - sind wir wieder zurück bei unter anderem den sozialen Medien und all das, weil es die Verkürzung auch immer gab - Schlagworte einfach nur, ideologisiert das Ganze. Müssen diese Züge gegeneinander brummen? Anstatt dass man beginnt, sich nebeneinander in die Lok zu setzen und sich auf einen Zug zu verlegen.

Rainer Münch: Was ist denn dann die Rolle und auch die Verantwortung der Politik und der Politiker / Politikerinnen, das Ganze zu moderieren, diesen Kompromiss? Ist es am Ende nur ein Aufgreifen der gesellschaftlichen Schwingungen und dessen, was da gerade passiert? Oder kann man da wirklich auch beeinflussen, aufklären, entwickeln? Was ist da Ihre Erfahrung und Ihre Einschätzung?

KT zu Guttenberg: Na ja Herr Münch, mit Moderation alleine ist es nicht getan. Es reicht auch nicht, nur zu grübeln und zu sagen: Ja, netter Gedanke, ich kenne mich nicht aus. Ich denke mal drüber nach und dann schauen wir mal, was daraus wird. Das soll's ja auch in den letzten Jahren gegeben haben. Das ist zwar zunächst mal sympathisch, wenn ein Politiker zugibt, er weiß von etwas auch mal nichts und es kommt immer nicht nur wie aus der Hüfte geschossen eine schnelle Antwort raus. Aber es ist schon so, dass man natürlich neben der notwendigen Moderation, die es geben muss, auch in der Lage ist, Konzepte zu entwickeln, sich aber auch mal in der Lage zeigt, Konzepte zu korrigieren und nicht auf Teufel komm raus an allem festzuhalten, was man irgendwann mal von sich geblökt hat, sondern dass Dinge dann eben auch diesen formenden Prozess durchlaufen. Und Politik ist eben, geht weit über Moderation hinaus, weil natürlich wird im Zusammenspiel einer Regierung mit einem Parlament in unserer repräsentativen Demokratie, ebenso wie es gestaltet ist, werden Entscheidungen getroffen. Und diese Entscheidungsfähigkeit ist schon auch etwas, was, glaube ich, Menschen erwarten. Sie erwarten schon auch, dass man nicht über Jahre Prozesse zerredet, sondern dass man dann irgendwann auch sagt: Okay, hier sind die Argumente entsprechend relativ deutlich auf dem Tisch. Die mögen konträr sein. Und dann hat man eine gewählte Regierung, die dann eine Entscheidung trifft. Die diese Entscheidung aber so kommunizieren muss, dass die Menschen das Gefühl haben, wir wissen, woran man ist. Woran es oft mangelt, ist, dass man aus der Feigheit vor dem nächsten Shitstorm oder ähnlichen Dingen diese Kommunikation windelweich macht und trotzdem eine harte Entscheidung trifft und dann fühlen sich die Menschen zurecht verarscht. Ich glaube, dass es vielmehr darauf ankommt, wieder sehr deutliche Sprache zu benutzen, ohne zu verletzen dabei, aber einfach deutlich zu machen: Das ist die Marschrichtung, für die wir uns jetzt entschieden haben, und damit Verlässlichkeit zu zeigen. Das Schlimmste, was man an Bild vermitteln kann, ist, dass man in einer Dauerkonsenssuche ist, aber gar nicht zum Konsens kommt. Oder einfach dieses Fähnlein im Winde. Dass man sagt: Na ja, Bevölkerung vergisst schnell. In einem halben Jahr mussten wir uns den Umständen soundso wieder anpassen. Anpassungen wird es immer geben und geben müssen, weil sich die Weltlage so schnell und so dramatisch verändern kann, wie sie sich oft verändert. Aber es wird ja gerne von diesem sogenannten Kompass gesprochen. Und wenn man weiß, bei denen sind wir so dran, ich teile vielleicht diese Meinung nicht, nimmt man einer zunehmend sich gehässiger begegnenden politischen Landschaft, aber auch in Teilen der Gesellschaft, ich glaube schon, einen Teil des Stachels. Und das ist auch etwas, was nicht unmöglich ist. Und wir sind wieder beim Ausgangspunkt: Wie begegnet man sich? Wie geht man miteinander um? Und wie sehr ist man bereit, Gestaltungskraft durch dann auch eine entsprechende nach außen getragene Überzeugung zu vertreten? Und da mangelt es in meinen Augen schon noch an vielen Ecken und Enden, weshalb es so wichtig ist, dass man einfach auch im politischen, unter dem großen politischen Zirkuszelt unabhängige Köpfe mehr und mehr auch zulässt. Da gibt mir die jetzige Konstellation eine gewisse Hoffnung. Wird man sehen, wie sich, wie sich das schüttelt. Aber die Unabhängigkeit erlaubt eben auch, dass man einfach mal vielleicht noch etwas offener ausspricht, das was man denkt. Ich habe immer das Gefühl gehabt, dass das bei den Menschen besser ankommt als dieses windelweich gewaschene oder nur apodiktische Festhalten an Thesen, die sich in dem Moment, wo sie ausgesprochen werden, schon erschöpft haben.

Rainer Münch: Ich würde Ihnen komplett zustimmen, dass ich auch mehr harte Wahrheiten und das Aussprechen harter Wahrheiten sehr begrüßen würde. Zugleich ist mein Eindruck, dass das politische System das nicht ausreichend unterstützt und dass es Raum gibt für populistische Relativierung, die den Menschen einfache Botschaften vermittelt und die dann eben doch zur Wahl führen. Wie kommt man aus diesem Dilemma wieder heraus?

KT zu Guttenberg: Ja, ist es das politische System oder es ist eigentlich mittlerweile eine gesellschaftliche Gesamtplattform, auf der man sich befindet? Das ist eben die Frage. Und oftmals ist natürlich das politische System nicht nur ein Spiegel, sondern ein Zerrspiegel einer solchen Gesellschaft. Gerne ein Zerrspiegel. Und je weiter man an die Ränder geht, umso verzerrter. Obwohl die behaupten, dass sie eigentlich der absolut klarste Spiegel sind. Das lässt sich eigentlich relativ leicht entlarven. Ich meine, wir kommen wahrscheinlich am ehesten aus, aus dieser-- das hat was Dilemmatisches -, aber aus dieser selbst gestellten Falle heraus, indem man nicht beginnt, Grabgesänge auf die Demokratie anzustimmen, sondern sich wieder zurückzubesinnen: Was heißt eigentlich Demokratie? Und sich auch selbst als Wähler die Frage zu stellen: Komme ich diesem Grundsatz nach? Was ist denn die Alternative? Will ich einen Autokraten? Will ich einen Diktator, der ja möglicherweise innerhalb von wenigen Minuten eine Entscheidung trifft, manchmal auch komplett ohne Abwägung? Da weiß man manchmal sehr schnell, woran man ist. Aber ich glaube, viele würden das wahrscheinlich als Konsequenz eher ablehnen. Oder muss man sich nicht selbst überprüfen, dass man sagt, Demokratie lebt davon, dass man gewählte Vertreter irgendwohin schickt? Man gibt ihnen einen gewissen Vertrauensvorschuss, der aber oftmals nicht mehr lange … früher hat man noch 100 Tage gegeben. Das ist lange vorbei. All dieses, all diese Riten, die man damals hatte, ist wahrscheinlich auch schwieriger geworden. Aber dass man dann auch akzeptiert, dass Entscheidungen getroffen werden müssen, die in einer Demokratie, insbesondere in einer solchen, die auf Koalition angewiesen ist, zwingend eines Konsenses bedürfen. Und ich komme zurück zu dem, was wir ganz zu Beginn diskutiert haben. Konsens ist nichts zunächst einmal bitter Negatives. Wir begreifen es oftmals aber so, weil wir es als Niederlage empfinden, weil etwas abgeschliffen wird, weil eine andere Position mit hineinkommen muss und Ähnliches. Und je weniger wir bereit sind, als Wählerinnen und Wähler diesen Aspekt zu akzeptieren, desto mehr leidet das Prinzip der Demokratie. Und das hat man eben wie unter dem Brennglas jetzt in den USA gesehen und sieht es dort auch und man sieht es eben bei uns vergleichbar. Ich komme immer wieder zu dem Punkt zurück, dass wir nicht nur den Spiegel mit der Holzwand hinten Richtung Politik halten und sagen: Schaut mal da rein, was ihr da alles für einen wahnsinnigen Unsinn macht. Sondern dass es sich empfiehlt, einen Spiegel zu haben, der auf beiden Seiten eine spiegelnde Fläche hat, der einem immer wieder dann auch zeigt: Vieles davon beginnt bei jedem Einzelnen. Und dann ist oft die Antwort: Ja, aber ich als Einzelner kann ja nichts ausrichten. Unsinn. Jeder kann in seinem kleineren oder größeren Netzwerk sehr viel ausrichten und hat dort Multiplikatorenwirkung. Ja, und manche haben eine Multiplikatorenwirkung, weil sie sich abends in Talkshow setzen, ich auch gelegentlich, wo man sehr viel mehr erreicht. Dann ist die Verantwortung vielleicht noch ein Stück höher in dem Moment. Aber die Verantwortung ist nicht fundamental geringer, wenn man diese Debatte in der Familie führt, im Freundeskreis oder mal mit solchen, mit denen man sich eigentlich gar nicht mehr unterhalten will, weil man ihre Thesen für grauslig hält. Nein, vielleicht sollte man sich gerade mit denen unterhalten und manchmal auch aushalten, dass man auseinandergeht und sagt: „We agreed to disagree." Aber wir haben uns nicht totgeschlagen dabei.

Rainer Münch: Der doppelte Spiegel ist eine wunderbare Überleitung zur Frage von Max Frisch, die Sie sich ausgesucht haben. Nämlich: Überzeugt Sie Ihre Selbstkritik? Warum sind Sie gerade an der Frage hängen geblieben und was ist Ihre Antwort darauf?

KT zu Guttenberg: Nun sind die Frisch‘schen Fragen -, nicht die frischen, sondern die Frisch‘schen Fragen -, jede einzelne von denen ist es wert, immer mal wieder gestellt zu bekommen. Und es ist schwer, da sich auf eine zu beschränken. Aber ich fand diesen Satz „Überzeugt Sie Ihre Selbstkritik?" zunächst einmal so, dass ich innehalten musste und man gerne reflexhaft sagen würde: „Na selbstverständlich, ich bin ein ausgesprochen selbstkritischer Mensch, kann über mich lachen, habe offensichtlich auch was Selbstironisches" und, und, und. Mag sein. Aber natürlich gibt es Momente, wo einen Selbstkritik nicht überzeugt. Also Antwort: Nein. Oft mal ja und rückblickend auch ja, wiederum aber immer jetzt auch von der Geisteshaltung getragen, die ich Ihnen vorhin vorgetragen habe, dass der Rückblick nicht überwölbend sein sollte. Und deswegen überzeugt mich, ist überzeugen einfach ein viel zu hart, ein viel zu glorreiches Wort für das, was die menschliche Schwäche am Ende nicht zulässt. Und ich bin eigentlich nie gänzlich überzeugt von dem, was ich mache, sondern glaube, dass es immer wieder noch, es hätte etwas besser gehen können. Da muss man aufpassen, dass man nicht in einen so kranken Perfektionismus abrutscht. Aber ich habe zumindest in den letzten Jahren sehr viel mehr Selbstkritik lernen dürfen und zugelassen, als ich es in meinen jungen Jahren hatte, aber das liegt wahrscheinlich auch in der Natur des Menschen. Und ich blicke sehr vergnügt heute auf manche meiner Fehler. Und ich blicke aber eben auch mit dem Haken dessen, dass ich sagen kann oder mit dem Bewusstsein, dass ich sagen kann, ich habe einen Haken dahinter gemacht und kann sowohl mir verzeihen als auch gerne anderen, die einem Unrecht getan haben oder die manchmal etwas zurecht getan haben, was aber einen verletzt hat. Und da ist es eben ganz wichtig, dass man nicht nur selbstkritisch ist, sondern dass man vielleicht auch darüber hinausgeht, dass man die Fähigkeit hat, sich und anderen zu verzeihen. Und da bin ich sehr angekommen und aber immer wieder unzufrieden mit der eigenen Selbstkritik.

Rainer Münch: Lieber Herr zu Guttenberg, das würde ich gerne als Schlusswort so stehen lassen. Ich danke Ihnen herzlich, dass Sie zu Gast waren bei Purpose versus Profit. Es hat mir große Freude gemacht.

KT zu Guttenberg: Mir hat es auch viel Freude gemacht, Herr Münch, und wir haben vergleichsweise wenig über Purpose versus Profit geredet. Aber das kommt davon, wenn Sie sich so einen Gast einladen.

Rainer Münch: Herzlichen Dank.

(Das Gespräch wurde aufgezeichnet am 10. Juni 2025)

    Karl-Theodor zu Guttenberg ist zu Gast bei Purpose vs. Profit. Der ehemalige Spitzenpolitiker ist heute als Unternehmer, Autor, Dokumentarfilmer und Moderator aktiv. Im Gespräch mit Rainer Münch geht es um die Frage, wie viel Profitorientierung Deutschland tatsächlich braucht und welche Auswirkungen dies auf den Purpose hat.

    Darüber hinaus sprechen die beiden über Themen wie seine persönliche Entwicklung, die enorme Bedeutung von Offenheit und Toleranz sowie die Rolle sozialer Medien. Zu Guttenberg teilt auch seine große Leidenschaft für die Literatur und gibt einen kleinen Ausblick auf sein bald erscheinendes Buch: "3 Worte: Neue Notizen aus der Gegenwart“. Wir wünschen eine erfolgreiche Veröffentlichung!

    Das Gespräch wurde aufgezeichnet am 10. Juni 2025.

    Den Podcast gibt es hier:  Apple Podcasts | Spotify | Youtube

    Rainer Münch: Willkommen bei Purpose versus Profit. Ich bin Rainer Münch und ich unterhalte mich hier mit meinen Gästen über die Werteorientierung im Geschäftsleben. Mein heutiger Gast ist Karl-Theodor oder auch KT zu Guttenberg, aktuell Multi-Unternehmer und ehemals Spitzenpolitiker. Zur Aufnahme treffen wir uns in unserem Münchner Büro. Mein Gast hat eine Wohnung in München und kommt mit dem Fahrrad. Sein Auftreten ist unprätentiös, offen und nahbar. Ich frage ihn, wieviel Profit-Orientierung Deutschland jetzt braucht und was dann mit dem Purpose passiert. Wir sprechen aber auch über seine persönliche Entwicklung, die enorme Bedeutung von Offenheit und Toleranz, über die Rolle sozialer Medien und seine große Leidenschaft für Literatur. Ich habe KT zu Guttenberg als bemerkenswert reflektiert, selbstkritisch und weltoffen erlebt. Und nun viel Spaß mit der heutigen Folge.
    Nach einer dynamischen Karriere in der Politik ist KT zu Guttenberg heute als Unternehmer, Autor, Dokumentarfilmer und Moderator tätig. Mit dem sehr zu empfehlenden Podcast "Gysi gegen Guttenberg“ setzt er seit zwei Jahren ein starkes Zeichen für einen konstruktiven Austausch und Dialog über politische Gesinnungsgrenzen hinweg. Seine Beobachtungen und Reflektionen aus dem Alltag teilt er mit großem Erfolg auf LinkedIn und zwischenzeitlich auch in Buchform. Im August erscheint sein zweites Buch "3 Worte: Neue Notizen aus der Gegenwart“, aufbauend auf dem Erfolg seines Erstlingswerks. Er ist Vater von zwei Töchtern und lebt wechselweise in Deutschland und den USA. Lieber Herr zu Guttenberg, herzlich willkommen bei Purpose vs. Profit.

    KT zu Guttenberg: Eine Freude, heute bei Ihnen zu sein. Ein herausfordernder Titel des Podcasts und Herr Münch: Schön, Sie kennen zu lernen.

    Rainer Münch: Herr zu Guttenberg, bevor wir auf dieses herausfordernde Spannungsfeld Purpose vs Profit eingehen, hätte ich zunächst eine persönliche Frage an Sie: In der öffentlichen Wahrnehmung gibt es ein Bild von Ihnen bis zum Rückzug aus der Politik und ein recht anderes nach der Rückkehr in die Öffentlichkeit. Mich würde interessieren, inwiefern sich aus Ihrer Sicht "diese beiden Personen“ unterscheiden. Hat da eine große innere Veränderung stattgefunden oder ist der Kontrast eher eine Frage der Darstellung und Wahrnehmung?

    KT zu Guttenberg: Es ist natürlich die gleiche Person, aber eine Person, die Entwicklungen unterworfen ist, wie sie das Leben letztlich zeichnet. Und von daher ist, glaube ich, die Unterschiedlichkeit eher eine, die durch den Blick von außen, auch durch die Medien, noch mal hervorgehoben wird, die aber der eigenen Empfindung kaum gerecht werden kann. Das Leben ist ein Prozess. Und in dem Prozess ist man in den unterschiedlichsten Einschlägen unterworfen, ist Wandlungen unterworfen, aber bleibt hoffentlich der Gleiche, die gleiche Person sowieso, der gleiche Mensch ohnehin. Und vielleicht für manche in der Wahrnehmung von außen schon auch mal ein verändernder, sich verändernder Charakter. Das mag sein. Aber ich sehe diesen prozessualen Charakter einfach und von daher würde ich mich dem Blick nicht anschließen, dass man hier zwei vollkommen verschiedene Menschen hat. Das ist Unsinn.

    Rainer Münch: Würden Sie sagen, dass Sie heute mehr Raum haben, authentisch zu sein, als früher?

    KT zu Guttenberg: Ja, das mit Sicherheit, wenn man den politischen Teil des Lebens mit einbezieht. Nun war der ja nicht wirklich mein ganzes Leben. Ich bin heute schon maueralte 53, und das war ein Zeitraum, der etwa zehn Jahre umfasst hat. Also ist das ja auch letztlich nur eine Facette. Sicherlich eine sehr öffentlichkeitswirksame, eine, wo auch sehr grelles Licht auf einem ruhte und wo man gelegentlich sicher auch mal dieses Licht suchte. Aber es ist schon so, dass man in dieser Zeit als solches die Authentizität schleift und sie zum einen von außen geschliffen wird, aber in Teilen natürlich auch selbst sich darauf einlässt. Woran liegt das? An den Fliehkräften des politischen Geschäftes. Also Sie sind schon sehr, sehr von den Wuchten und Unwuchten als solches teilweise getrieben, teilweise entsprechend verplant. Und die Zeit zu reflektieren, die Zeit, immer mal wieder seinen eigenen Charakter zu überprüfen, die Zeit, sich Gedanken zu machen, wie viel ist von meiner Unabhängigkeit noch da, was ja auch ein Teil einer, zumindest nach meinem Verständnis, der Authentizität ausmachen kann, wird immer geringer. Und ebenso gering wird die Zeit, die man mit den Menschen verbringt, die der Authentizität am nächsten sind. Und wenn plötzlich die Authentizität rein nur noch politisch bestimmt wird oder sich von ihr formen lässt, dann läuft etwas schief. Und das war sicher auch einer der Gründe, warum ich irgendwann gesagt habe: Ich muss aus dem Geschäft auch wieder raus.

    Rainer Münch: Würden Sie denn sagen, dass sich die Welt da weiterentwickelt hat und dass die Rahmenbedingungen heute anders sind als noch zu Ihren Zeiten als aktiver Politiker? Oder ist das weitgehend unverändert?

    KT zu Guttenberg: Ich glaube, sie ist noch ein bisschen unerbittlicher geworden, sie ist noch ungnädiger geworden und sie ist noch gehetzter geworden. Das Gehetzte zeigt sich darin, dass man noch weniger Zeit hat, sich auch mal Gedanken über die Substanz der Dinge zu machen, über die man entscheidet und die ja meistens nicht unerheblich sind, insbesondere wenn man in der Spitzenpolitik tätig ist. Und von daher ist, glaube ich, schon in den letzten fünfzehn Jahren einiges geschehen, das nicht auch zur Qualität politischer Entscheidungsfindung, auch medialer Begleitung, auch des jeweiligen Diskurses zwischen Politik und Bevölkerung und umgekehrt beigetragen hat. Da spielen viele Faktoren eine Rolle. Ich glaube, wir werden sicher heute noch mal etwas tiefer diskutieren, auch über die Kraft sozialer Medien. Man kann sich sicherlich streiten darüber, ob soziale Medien wirklich so viel verändert haben. Was sie aber gewiss verändert haben, ist der Zeitraum, in dem man heute reaktionsfähig sein muss in der Politik. Früher hatte man manchmal ein paar Stunden, manchmal eine Nacht, vielleicht auch mal ein paar Tage, um auf Anwürfe, um auf Anfragen, um auf investigative Dinge zu reagieren. Heute sind einem maximal zehn Minuten gegeben und diese zehn Minuten entscheiden darüber, ob man einen Shitstorm zu reiten hat oder zu durchreiten hat, oder ob man irgendwie so gerade noch mal mit einem blauen Auge davongekommen ist. All das trägt nicht zur Qualität in der Politik bei.

    Rainer Münch: Gibt es da etwas, was Ihnen Hoffnung macht, dass sich das in Zukunft auch wieder bessern kann und die Rahmenbedingungen stärker werden für sehr gute politische Entscheidungen?

    KT zu Guttenberg: Manchmal habe ich diesen Gedanken, dass es wahrscheinlich eines veritablen Orkans bedarf, um so etwas wie eine Katharsis auszulösen. Ob man sich das wünscht, ist eine ganz andere Frage. Ich glaube aber, dass wir in so einem Orkan stehen und dass wir – viele reden ja von einer von einer Welt, die in einem Multikriseneffekt gerade gefangen ist. Das mag richtig sein. Ich glaube, was dazukommt, ist, dass die Vernetzung vieler Krisen aufgrund der Entwicklungen der letzten Jahrzehnte, gar nicht der letzten Jahre, zumindest in der Wahrnehmung zugenommen hat. Eine Vernetzung hat es immer gegeben, aber die Wahrnehmung hat zugenommen und mit der Wahrnehmung dieser Vernetzung hat auch die Überforderung und die Überwältigung vieler Menschen zugenommen und die Unzufriedenheit gegenüber dem Politikschaffenden, weil man plötzlich nicht nur sich an zwei, drei Themen in irgendeiner Form kritisch versucht entlang zu hangeln und die oftmals sicherlich auch gegebenen Schuldigen in den Politikschaffenden sucht, sondern es sind viele und es sind es sind zahlreiche, zahlreiche Themen, wo diese Überforderung sichtbar wird. Und vor diesem Hintergrund glaube ich, dass das Verhältnis natürlich noch mal als solches schwer gelitten hat. Und da unterscheiden sich politisches Verhalten und politische Entscheidungsfindung und eben die Möglichkeit der Selbstüberprüfung, ob Dinge richtig oder falsch sind, schon, glaube ich, nicht unmaßgeblich von dem, was man vielleicht 10, 20, 30 Jahre vorher hatte.

    Rainer Münch: Eine wichtige Rolle spielt in dem Kontext sicherlich auch die Werteorientierung, dann auch in der Politik, dass es einen gewissen Nordstern gibt, einen Kompass. Was ist da Ihre Beobachtung? Wo steuern wir da hin? Werden Werte wichtiger, zentraler für die Politik, für die Gesellschaft oder wird das gerade eher verwässert?

    KT zu Guttenberg: Ich habe das Gefühl, dass beides ein wenig zutrifft und aber immer in der Übersteigerung. Also es ist wenig von dem sogenannten Middle Ground spürbar, dass man einfach sagt, man versucht zunächst einmal einen Schritt zurückzugehen und sich zu fragen: Muss es immer die Maximalforderung sein oder gibt es etwas, was auch noch konsensfähig ist und wo man auch zufrieden sein kann, dass man vielleicht nicht sein, das Hundertprozentige des eigenen Wertempfindens geliefert bekommen hat in einer Antwort oder in einer politischen Handlung? Aber dass man auch sagen kann, es wurde zumindest etwas erreicht. Und nun jonglieren einige mit Werten, die sie gar nicht selbst leben. Das erlebt man tatsächlich jetzt auch in alten Demokratien, insbesondere in den USA. Das nimmt aber auch bei uns zu. Andere gebrauchen den Begriff Werte, um letztlich sich lediglich in einer Ablehnung aktuellen politischen Handelns zu bewegen. Das ist etwas, was beispielsweise bei uns die AfD sehr erfolgreich bespielt, diese Klaviatur, aber teilweise auch ganz links außen. Also die Ränder bedienen sich dessen und damit werden Werte mit der Angst vor Verlust verbunden. Und für viele Menschen ist es auch die Angst vor dem Verlust von Werten, obwohl sie sich manchmal schwertun, diese Werte selbst zu formulieren und zu definieren. Und deswegen ist Ihre Frage so einfach nicht zu nicht zu beantworten. Ich glaube, dass man in der Politik manchmal gar nicht dazu kommt – jetzt komme ich wieder zurück zu dem, was Sie vorhin gesagt haben –, angesichts dieses ungnädigen Tempos, in dem man sich da befindet, überhaupt noch Werte durchzudeklinieren und diese Werte auch vorzuleben dann entsprechend, auch wenn man es gerne behauptet, und in der Umkehrung natürlich diese Erwartungshaltung wächst, weil es immer weniger erkennbar wird. Und das führt dann zu diesen Maximalhaltungen.

    Rainer Münch: Wie würden Sie Ihre persönliche Werteorientierung beschreiben? Was ist Ihnen wichtig?

    KT zu Guttenberg: Ich bin kein Eklektiker, was das anbelangt. Aber auch da trifft das zu, was ich am Anfang angesprochen habe. Manches ist ein Prozess. Ich bin in einem vergleichsweise konservativen Umfeld aufgewachsen, wobei das auch immer wieder durchbrochen wurde. Ich bin mit meinem Vater groß geworden, der zum einen teilweise brachial konservative Werte gelebt hat, zum anderen aber eine durch und durch eine Künstlernatur war. Er war Dirigent und war, er hat auch jedes Klischee eines Künstlers erfüllt mit Überzeugungen, die eigentlich ein absoluter Kontrapunkt zu seinen dann immer wieder fast krampfhaft gelebten konservativen Werten waren. Für mich sind Werte dahingehend entscheidend, wenn sie dazu beitragen, dass eine Gesellschaft zusammenhält und dass man es schafft, unterschiedliche Denkweisen und Überzeugungen zu überbrücken. Und auch da ist manchmal der Maximalwert wahrscheinlich nicht immer der hilfreichste. Also auch da schließt sich so ein bisschen ein Kreis zu dem, was ich vorhin gesagt habe. Und deswegen ist manches, was mich prägt und wo ich immer wieder mich auch darauf berufe, sind schon, sagen wir mal, die Gerüste, die sich bei uns im christlichen Abendland, im christlich-jüdischen Abendland herausgebildet haben, welche, mit denen ich mich selbst überprüfe, aber auch immer wieder versuche, eine Gesellschaft zu überprüfen, ohne dabei jetzt eine religiöse Knute walten zu lassen, sondern es ist ja manchmal wirklich sind es Vernunfterwägungen, die aus dem Schrecken, zu dem Menschen in der Lage sind, sich entwickelt haben und die über Jahrtausende hinweg Bestand hatten. Und hier muss man die Welt nicht ständig neu erfinden. Also da finde ich relativ viel, was sich bei mir spiegelt und wo ich aber dann auch immer wieder sage, man darf sich und die Menschen damit auch nicht überfordern, und das Koppeln mit der Überforderung, mit den Punkten, die wir gerade schon andiskutiert hatten.

    Rainer Münch: Sie hatten in diesem Jahr das Pfingstfest genutzt, um in einem LinkedIn-Beitrag zum Thema Verständigung zu reflektieren. Zu Pfingsten soll ja laut christlicher Überlieferung der Heilige Geist die Jünger Jesu befähigt haben, viele Sprachen zu sprechen und zu verstehen und damit die Verständigungsbarrieren zu überwinden. Da stellen Sie die schöne Frage „Wir reden viel – aber hören wir auch zu?“. Sie schreiben, dass in der heutigen Gesellschaft mehr Brücken gebaut werden sollten, dass man sich zuhört und verständigt. Aber sie beobachten, dass an vielen Stellen das Gegenteil passiert, dass es immer fragmentiertere Milieus gibt, die in sich kommunizieren, aber immer weniger Brücken bauen. Das führt zu meiner Frage: Was können wir tun? Was kann ich tun, um das zu ändern, um dagegen zu steuern?

    KT zu Guttenberg: Also zunächst einmal noch mal zurück zum Pfingstfest. Heute weiß kein Schwein mehr eigentlich, was das Pfingstfest eigentlich ist. Also ich würde sagen, es ist eher die Minderheit und die anderen, für die ist es ein willkommenes langes Wochenende. Und ich habe das zum Anlass genommen, um mir noch, mal mich einfach zu fragen: Was ist der Ursprung? Und daran muss man nicht glauben. An den Heiligen Geist und die Zungen, die vom Himmel kamen und all das, damit tue ich mich selbst auch schwer. Aber der Grundgedanke ist: es gibt ja zwei, die man anlegen kann. Einer ist ein hoch theologischer und das andere ist einer, den man übertragen kann auf uns heute. Und das ist das, was Sie genannt haben, nämlich: Ist man heute überhaupt noch zur Kommunikation in der Lage, um Barrieren zu überwinden? Und das bringt mich jetzt noch mal etwas konkreter zu den Werten, die Sie vorhin angefragt haben und zu Ihrem wichtigen Einwurf jetzt: Was kann jeder Einzelne tun? Ich glaube, und das klingt für manche ganz banal und für manche unglaublich schwierig: Begriffe wie Offenheit und Toleranz, weil das nicht immer zwingend das Gleiche ist. Begriffe wie eine oder Begriffspaare wie eine nicht spaltende Tonalität ist nun wirklich nicht etwas, wofür es einen Heiligen Geist braucht, noch ist es etwas, was man einfach mal mit leichter Hand erstmal von den Gewählten oder von Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen, fordern sollte. Da kann jeder bei sich selbst beginnen. Das kann jeder zu jedem Zeitpunkt des Tages an sich üben und mit sich üben. Und das ist wie ein Muskel, den man trainiert. Und wenn man Menschen, mit Menschen spricht und sie erstmal darauf anspricht, und sagt: Fühlen Sie sich als ein toleranter und offenherziger, offener Mensch? Die meisten antworten erst mal aus der Hüfte mit Ja. Und wenn man dann etwas nachhakt und etwas tiefer geht und das an Themen festmacht, stellt man auch nicht selten fest, dass es nicht zwingend so weit hergeholt ist mit dieser grundsätzlichen Offenheit, dass auch Gelten lassen einer anderen Meinung, dass man reflektiert, dass man versucht, zunächst einmal respektvoll mit jemandem umzugehen, der möglicherweise eine diametral andere Ansicht hat. Und es ist wirklich kein Hexenwerk, das im Umgang miteinander zu pflegen. Und dieser Umgang oder diese Form des Umgangs hat in wirklich bedenklicher Weise gelitten. Nun ist es nichts, was jetzt in den letzten drei, vier Jahren mal so eben vom Himmel gefallen wäre, sondern es ist ein Entwicklungsprozess, der lange zurückgeht und den man in besonderer Zuspitzung gerade in den USA sieht. Aber auch nicht zu knapp bei uns in Europa. Auch auf anderen Teilen dieser Welt und in anderen Teilen dieser Welt. Und deswegen glaube ich, dass man, zu Ihrem Ausgangspunkt noch mal zurückkommend, dass man bei so vielen Dingen vergleichsweise schmerzfrei bei sich selbst beginnen kann, aber der Reflex eben da ist, zunächst einmal mit dem nackten Finger auf andere zu zeigen und es erst mal von anderen einzufordern, bevor man an sich selbst zu üben beginnt.

    Rainer Münch: Wann kommen Sie an Ihre Grenzen, was Offenheit und Toleranz angeht?

    KT zu Guttenberg: Dann, wenn eine harte andere Meinung mit der Bereitschaft zur Gewalt verbunden ist, wenn es mit dem Willen zur Degradierung anderer verbunden ist, wenn es einfach auf eine vollkommene Unfähigkeit stößt, sich auch einmal selbst einer gewissen Veränderung zu unterwerfen, die einfach was mit Mitmenschlichkeit zu tun hat. Dafür muss man gar nicht den hehren Begriff der Nächstenliebe bemühen. Aber Mitmenschlichkeit als solche ist schon eine, die zumindest in meinen Augen die Basis ausbilden sollte. Aber ich habe trotzdem eine gewisse Offenheit auch gegenüber jenen, die dazu noch nicht in der Lage sind, aber sich selbst eine gewisse oder sich selbst bereit zeigen, sich dem anzunähern. Und sowas geschieht nicht über Nacht. Und deswegen sollte man all jene auch nicht fallen lassen, wo man sagt: Mein Gott, wie kann man sich weiterhin so verhalten, wenn gleichzeitig erkennbar ist, dass da schrittweise in die richtige Richtung marschiert wird? Also deswegen: Ich habe meine Toleranzgrenzen, ohne Frage. Und das ließe sich wahrscheinlich an noch zahlreicheren Beispielen aufzählen. Und trotzdem bin ich in den letzten Jahren sicher auch nach dem Ausscheiden aus der Politik offener, toleranter geworden als ich es war, weil man eben dann manchmal auch in einem inhaltlichen Korsett gefangen ist, wo man dann für seine Überzeugungen manchmal auch nicht nur gnädig streitet. Und dazu habe ich jetzt nicht wirklich immer geneigt, aber manchmal einfach auch blind für irgendwelche Vorgaben aus einer Partei, wo man eigentlich möglicherweise gar nicht alle Inhalte teilt, aber dann sagt, auch da darf eigentlich keine, darf kein Entgegenkommen herrschen, weil man auf Teufel komm raus gerade diese Überzeugung durchsetzen muss. Was für ein Bullshit! Und ich glaube, dass politisches Handeln und Agieren insgesamt auf fruchtbaren Boden auch in der breiten Bevölkerung fallen würde, wenn diese Bereitschaft etwas offener vorgelebt würde.

    Rainer Münch: Fällt Ihnen ein Beispiel ein, wo Ihre Offenheit zu einer ganz neuen Erkenntnis geführt hat, wo Sie auch sagen, vielleicht hätten Sie früher sich dem nicht so sehr geöffnet, aber jetzt mit einer Offenheit, mit einer Toleranz hat das einen Lerneffekt ermöglicht, den es sonst nicht gegeben hätte?

    KT zu Guttenberg: Ach, zahlreiche. Das ist manchmal, würde ich sagen, dass das fast täglich der Fall ist. Aber das hat auch sehr viel damit zu tun, dass man, dass ich heute etwas mehr Zeit habe als damals im politischen Leben oder mir die Zeit nehme, mich etwas tiefer mit Begründungsmustern zu befassen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel, das ist aber jetzt schon relativ lange her, dass dieser Prozess eingesetzt hat. Ich komme noch mal zurück auf meinen etwas erstaunlichen Vater, der zu den sehr frühen Verfechtern der Umwelt- und Naturschutzbewegung zählte. Also auch schon Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre, wo jeder noch mit brüllender Häme auf diese Thesen eingeschlagen hatte. Und ich war da sehr lange auch skeptisch. Das lag auch daran, dass er einfach ein in der Wolle gefärbter Apokalyptiker war und ständig die Welt untergehen sah. Und ich habe mich dagegen reflexhaft gewehrt, teilweise auch mit ganz guten Argumenten, weil die Welt ist zumindest zu seinen Lebzeiten nicht untergegangen und sie hätte mindestens 70 mal untergehen müssen, so wie er das erwartet hatte. Und ich habe mich damals eher mit Schlagworten der Gegenseite mit seinen Thesen befasst und wir haben uns da oft gerieben, uns trotzdem gemocht, aber das gab es da auch schon mal Diskussionen und Streit. Und rückblickend muss ich sagen, insbesondere zu dem Zeitpunkt, da lebte er ja auch noch, wo ich dann mich einfach etwas verantwortungsvoller mit seinen Thesen befasst habe, ich sagen muss, er hatte in vielen Punkten sehr recht. Ich glaube, er hat nicht immer die richtigen Mittel gewählt, um es durchzusetzen, weil er in der Hinsicht keinerlei Toleranz für die Gegenposition hatte. Aber es hat mich zum Umdenken gebracht und es ist für mich heute ein ganz, es ist ein wichtiger Punkt in meinem Leben und etwas, wo ich einfach sage: Was bedeutet Verantwortung in einem Leben? Und man macht sie, wenn man das Glück hat, Kinder zu haben, an seinen Kindern und hoffentlich irgendwann Kindeskindern fest, aber man macht sie auch in der Fortdauer am Fortleben einer Gesellschaft fest. Und da sich zu korrigieren, ist nun wirklich nicht etwas, was bei dem hübsch geputzten Krönchen auf dem Kopf irgendeinen Zacken rausbrechen ließe, sondern das war einer der Punkte, wo ich mich sicher korrigiert habe. Ansonsten gab es Dinge, die im außen- und sicherheitspolitischen Bereich eine Rolle spielten, die in gewissen gesellschaftlichen Fragen eine Rolle spielten. Ich habe mich mal teilweise sehr, auch sehr hart - ich habe eine sehr katholisch lebende Familie -, von deren Lebensentwürfen nicht abgewandt, aber sie sehr kritisch begleitet. Heute sage ich: Warum kann man das nicht auch bewundern, wenn jemand damit glücklich wird? Ich würde es nicht, aber auch das sind so Wandel und Wechsel, die, was Wertemuster anbelangt, dann einfach genau diese neue Offenheit plus sicher auch die von mir gewonnene Gelassenheit im Leben wahrscheinlich dann hervorgerufen hat.

    Rainer Münch: Sie hatten es vorher schon angeschnitten: Beim Thema Brücken bauen und aufeinander zugehen wird gerne erklärt, dass die Digitalisierung und diese Social-Media-Bubbles dazu führen, dass wir in der Gesellschaft mehr Fragmentierung und weniger Austausch beobachten. Zugleich gab es solche Entwicklungen in der Geschichte der Menschheit ja immer wieder, mit zunehmender Polarisierung und Fragmentierung, die dann schließlich kriegerisch aufgelöst wurden. Von daher meine Frage an Sie: Wird die Rolle der Medien da manchmal nicht überschätzt und liegt das Problem nicht tiefer?

    KT zu Guttenberg: Ja, es liegt dahingehend tiefer, weil die Medien alleine nichts verändern, sondern letztlich die Menschen, die diese Medien nutzen. Und deswegen muss man immer bei Menschen ansetzen. Und es sind Menschen, die diese neuen Plattformen geschaffen haben, manche aus einfach teilweise ganz platten monetären Gründen, andere, weil sie am Anfang vielleicht glaubten, die Welt verändern zu können und irgendwas Gutes zu tun, um dann festzustellen, dass ihnen manches hehre Ziel einfach mit voller Wucht um die Ohren fliegt. Also ein Mark Zuckerberg kann davon, glaube ich, viele Geschichten erzählen, andere auch. Ob er es immer ehrlich tut, ist eine andere Frage. Und deswegen haben Sie hier einen guten Punkt. Ich glaube trotzdem, einen Unterschied zu sehen. Die historische Analogie ist richtig. Der Unterschied liegt in der wirklich teilweise atemberaubenden Geschwindigkeit, in dem sowohl diese Medien Wirkung erzielen, als auch diese Medien ihren Siegeszug hatten. Also wenn man das vergleicht, beispielsweise mit der Druckerpresse aus dem fünfzehnten Jahrhundert oder wenn man es vergleicht, welche Formeln genutzt wurden, um beispielsweise die Grundsätze der Aufklärung in die Bevölkerung hineinzutragen. Wenn man es vergleicht damit, wie mit welchen unterschiedlichen Geschwindigkeiten teilweise das Nutzen von Medien in unterschiedlichen Teilen dieser Welt sich entwickelt haben und dann plötzlich diese Teile der Welt in Interessenskonflikten aufeinandertrafen. Und dass das natürlich dann noch mal zu auch extremen, auch kriegerischen Konflikten führen konnte. Dann glaube ich, dass man ja, dass man Gemeinsamkeiten hier sehen kann. Aber dass heute noch mal einfach die Zeit und dieses, diese Geschwindigkeit des Eintreffens zu kritisch selbst und mit anderen zu überprüfen, immer knapper wird, weil die Entwicklungssprünge so gewaltig sind. Jetzt kam in den letzten Jahren noch mal dieser Durchbruch mit künstlicher Intelligenz dazu. Ich bin fern davon, das zu verteufeln. Aber ich bin-- gehöre jetzt auch nicht zu den, zu den unkritisch zukunftsgläubigen Jüngern, die sagen, das ist mit keinerlei Risiken verbunden. Die Risiken manifestieren sich ja teilweise schon. Auf der anderen Seite bietet es natürlich auch unfassliche Möglichkeiten, die Menschheit, der Menschheit letztlich Zukunftsperspektiven zu geben, die positiv sind und auch Umgangsformen wieder zu verändern. Und das Potenzial, man muss einfach sagen, es ist da. Wir können es nicht mehr wegdiskutieren. Es wird nicht, es wird sich nicht pulverisieren, sondern der Mensch muss lernen, damit umzugehen. Und ich habe da große Hoffnung. Ich bin alles andere als ein hoffnungsloser Mensch. Und ich glaube auch, dass man jetzt gerade mit den Schockerlebnissen der letzten Jahre, wo man gar nicht mehr wusste, um Himmels willen, was holt mich da jetzt ein?, dass dieser Aspekt der Kontrolle wieder wichtiger wird und auch greifbarer wird. Wenn man begreift, dass man es mit einer neuen Form, insbesondere bei der künstlichen Intelligenz, des, eines Werkzeugs... Werkzeugs ist ein falscher Begriff. Es gibt Mustafa Suleyman, einer der AI-Wunderkinder, die da draußen herumspringen, von vielen auch kritisiert. Aber der hat einmal ganz, der hat einmal ganz klug gesagt gehabt, und ich halte das für gar nicht so falsch: Der Mensch war immer in der Lage, Werkzeuge zu schaffen und hat dann diese Werkzeuge kontrolliert und aus dem kontrollierten Werkzeug ist eine Kaskade neuer Werkzeuge entstanden. So, mit künstlicher Intelligenz ist das jetzt ein bisschen anders, weil der Aspekt der Kontrolle einfach kaum mehr so greifbar ist. In dem Moment, wo das mehr und mehr Menschen begreifen, glaube ich, wird man sich schon auch in der Lage zeigen, sicher eine neue Form der Kontrolle und auch nicht der alleinigen, aber so herzustellen, dass einem das nicht komplett um die Ohren fliegt. Diese Hoffnung habe ich. Ich kann sie nur als Hoffnung derzeit formulieren. Weiter geht's nicht. Aber es geht auch darum, diesen Gedanken in die Öffentlichkeit zu tragen, weil sich alleine überwältigt und verzweifelt und perspektivlos zu fühlen, ist keine Antwort. Und diese Perspektivlosigkeit ist dann wiederum letztlich etwas, was die Rattenfänger an den Rändern wieder nährt. Und dann sind wir wieder zurück bei der Ausgangsdiskussion, wie sich das politisch entwickelt. Also hier schließt sich auch ein Kreis.

    Rainer Münch: Wenn Sie es könnten, würden Sie Social Media beschränken?

    KT zu Guttenberg: Nein, ich würde die, ich würde die Kompetenz der Menschen versuchen so zu entwickeln – und das hat sehr viel mit Bildung und Ausbildung, digitaler Bildung, digitaler Kompetenz zu tun, all das –, dass der Umgang damit, die ganzen negativen Seiten, die wir kurz schon mal angerissen haben, dass man die einzuhegen versteht. Mit der Beschränkung als solches ist nichts gewonnen, weil die Ausweichmöglichkeiten heute überall und jederzeit gegeben sind und die Menschen genau wissen mittlerweile, wohin man ausweicht. Es ist auch, ich glaube, eine hehre Romantik, einfach zu glauben, dass sich jetzt irgendwann ein globales Regime herausbilden wird, das gleich einer neu formulierten UN dann plötzlich versucht, soziale Medien zu reglementieren. Heute können Sie über einen VPN-Kanal, wenn Sie es irgendwo reglementiert haben und es ist, nehmen wir das Beispiel in Deutschland würde es noch mehr reglementiert, als es ja in Teilen schon reglementiert ist, darf man ja nicht vergessen. Es gibt ja durchaus eine Einschränkung auf europäischer Ebene, auch auf deutscher Ebene, also was Hate Speech, solche Sachen anbelangt. Vieles hat ja auch sein Gutes, ohne Frage. Nur wenn das überhandnimmt, sind wir an einem Punkt angelangt, wo Menschen mit einem Handgriff, und zwar da muss man kein Hexenmeister im Digitalwesen sein, mit einem Handgriff eben sagen können: Ah ja gut, das ist vielleicht…, ich nehme jetzt mal ein Beispiel, wo es vielleicht gar nicht der Fall ist, aber in Bolivien weit unreglementierter, also wähle ich mich, wähle ich mich über diese Dinge ein. Ausweichmöglichkeiten werden da immer gegeben sein. Deswegen glaube ich, verschenkt man Kraft, die man sehr viel mehr bräuchte in der Ausbildung digitaler Kompetenz, auch in der Entwicklung der Fähigkeit, nicht jeden Scheiß zu glauben, der einem da um die Ohren fliegt, in der Notwendigkeit des kritischen Denkens. Und das ist etwas, das muss, in meinen Augen muss das Platz greifen, viel mehr bereits in der frühen schulischen Ausbildung, in der Berufsbegleitung. Es ist, trifft alle Generationen. Und wenn man, wenn man sich mal umsieht und auch im unmittelbaren familiären Umfeld und mal schaut, wer hat denn wirklich digitale Kompetenz? Behauptet wird sie viel. Aber digitale Kompetenz beginnt nicht damit, dass man sich jetzt schnell, ähm, einfach mal bei IKEA einen Schrank bestellen kann. Zusammenbauen muss man am Ende wieder meistens selber oder man holt sich jemanden, der es einem macht. All das lässt sich dann übertragen auf andere Dinge. Also: Ich bin da eher liberal, ein bisschen weniger liberal, wenn es darum geht, dass wir einfach einen wahnsinnigen Nachholbedarf haben, was unsere Ausbildung und Schulausbildung anbelangt.

    Rainer Münch: Ich würde dann gerne vom Digitalen zum Analogen kommen. Ich hatte Sie gebeten, einen Wertegegenstand mitzubringen, der für Sie etwas symbolisiert. Ich schaue hier auf ein Buch, etwas kleiner als A5-Format, mit Tauben und einem orangen Hintergrund und einem Konterfei, einem Bild von Ihnen. Es ist Ihr Buch „Drei Sekunden - Notizen aus der Gegenwart". Jetzt haben Sie mir gesagt, es geht hier nicht um eine Buchpromotion, sondern es geht darum, dass dieses Buch und Bücher für Sie eben einfach Ihre Werte auch sehr stark prägen und repräsentieren. Vielleicht können Sie das mal ein bisschen ausführen, was es damit auf sich hat.

    KT zu Guttenberg: Ja, also das Letzte, was ich jetzt machen wollte, ist eigentlich dieses Buch mitzunehmen, um über dieses Buch zu sprechen, weil ich das tatsächlich jetzt nur stellvertretend für den Aspekt Buch gegriffen habe. Als ich die Wohnung verlassen hatte, lag es eben griffbereit gerade da. Ich hätte mir irgendeinen der vielen Romane greifen können, die bei mir zu Hause liegen und die jetzt nicht nur als Dekoration und ungelesen da liegen, um dann irgendwelchen Gästen zu zeigen, dass man vielleicht über eine halbseidene Bildung verfügt. Ich habe mir manchmal Gedanken darüber gemacht: Was würde man versuchen zu retten, wenn es zu Hause brennt? Und an vielen hängt eine nostalgische Erinnerung. Nur ist eine nostalgische Erinnerung etwas, die sich nicht zwingend an dem Gegenstand festmachen muss, sondern ich bin dann irgendwann zu dem Schluss gekommen, wenn es brennt, hoffe ich, dass ich zumindest die Werte mitbringe, die sich bei mir in meinem Kopf manifestiert haben. Alles andere ist endlich. Und es gibt keinen Tag, wo sich nicht neue Werte ergeben und erschaffen ließen. Und eine Erinnerung ist was Wunderbares, aber eine Vergangenheit ist auch unwiederbringlich. Und das kann man im Negativen wie im Positiven betrachten. Und das war ein Erkenntnisgewinn, für den ich eine relativ lange Zeit brauchte und für die ich auch eine Beschäftigung mit nicht nur positiven Aspekten meiner Vergangenheit erst mal überwinden lernen musste. Und ich habe dann eben festgestellt, dass die Unabänderlichkeit des Gewesenen eigentlich das Beste ist, was einem passieren kann, weil man sicher seine Lehren daraus ziehen muss, auch aus seinen Fehlern, die man gemacht hat und all das, aber sich damit nicht belasten muss. Und jetzt kann ein Wertgegenstand aus der Vergangenheit etwas fröhlich Stimmendes sein, aber es kann eben auch etwas Belastendes sein. Aber ich ziehe so unglaublich viel Positives und Fröhliches aus den Dingen, die mir in der Gegenwärtigkeit passieren und den Menschen, die mich umgeben, Momente, die ich erleben darf, dass ich davon einfach Abstand genommen habe. Und jetzt komme ich zu dem Punkt zurück: Warum ein Buch? Weil mich Weniges so innerlich öffnet, insbesondere wenn man im nicht immer nur gleichgängigen Alltag befindlich ist, als die Möglichkeit, in Literatur einzutauchen. Und manchmal verharrt man nach drei Seiten und reflektiert über einen Halbsatz, den man gelesen hat, der dann oftmals gar nichts mehr mit dem Buch zu tun hat. Oder man beginnt, eine Erzählung, eine Geschichte zu begreifen. Und das ist für mich, ist es dann oft eher wirklich Literatur/Belletristik als ein Sachbuch, die ich auch lesen muss, auch gerne lese. Aber es ist dann wirklich Literatur, die bei mir diese Öffnung erlaubt und auch diese zusätzliche Gegenwärtigkeit noch mal verstärkt. Und deswegen ist das für mich, glaube ich, wahrscheinlich, wenn ich etwas Haptisches nehmen sollte und Ihnen mitbringen und sagen: Was ist wirklich ein Wertegegenstand eines Tages oder einer Woche? Dann hätte ich wahrscheinlich zwei Romane dabei, und die sich natürlich in der Woche drauf wieder verändern. Ich werde immer mal wieder gefragt: Welcher Roman hat Ihr Leben verändert? Jeder, auf eine Weise. Und vielleicht jeder auch nicht. Aber er hat mein Leben geprägt. Und es ist ganz lustig: Ich merke ihn mir oft gar nicht, manchmal sogar gar nicht den Verfasser eines Romans. Manchmal geht der Plot bei mir verloren, aber ich weiß, dass er mir in dem Moment geholfen hat oder in dem Moment einfach eine, etwas Besonderes gegeben hat. So, jetzt gibt es manchmal auch absolut beschissene Romane, die legt man dann weg. Aber allein in der Auseinandersetzung mit wie schlecht man etwas geschrieben findet, ohne es aber gleichzeitig nur boshaft zu verurteilen, ist auch schon wieder ein Mehrwert geschaffen. Es ist nicht zwingend vergeudete Zeit. Und deswegen habe ich Ihnen heute einfach stellvertretend ein Buch mitgebracht. Das war zufällig meines, das klingt jetzt furchtbar eitel, sondern das war einfach das, was ich mir gegriffen hatte. Und das ist vielleicht die etwas ungewöhnliche Herangehensweise an diesen Wertgegenstand.

    Rainer Münch: Würden Sie sagen, dieses künstlerische Schaffen und dieses künstlerische Werk mit Buch, mit Filmen, die Sie ja jetzt auch produzieren, ist auch so eine Verwirklichung von einem Lebenstraum für Sie?

    KT zu Guttenberg: Es ist zumindest etwas, was ich wahnsinnig gerne mache. Und ich glaube, in jedem Mensch steckt eine eigene Kreativität. Und ob ich sie genügend abrufe, weiß ich nicht. Das mögen andere beurteilen. Ich weiß nur, dass es mir Freude macht und dass ich mich einfach gerne beispielsweise jeden Samstag hinsetze, um meine Kolumne zu schreiben. So, das dauert manchmal eine Stunde, manchmal kann es auch drei Stunden dauern, manchmal dauert es ein bisschen länger. Man nimmt sich Pause dazwischen und wenn man mit anderen spricht, die auch regelmäßig schreiben, die sagen, irgendwann ist es: um Himmels willen jetzt schon wieder und all das? Und was für eine Belastung! Ich empfinde das gar nicht als Belastung. Es ist wirklich, es hat was Befreiendes. Und deswegen: ja, ein Lebenstraum. Ich habe vorhin über den Unsinn von Vergangenheit gesprochen oder der Beschäftigung mit, der übermäßigen Beschäftigung mit Vergangenheit. Ebenso unsinnig ist es, sich ständig mit Zukunftsträumen zu befassen, weil sie nie so eintreten wird. Und deswegen ist dieser Begriff Lebenstraum für mich nicht wirklich etwas Zutreffendes, sondern eher etwas, wo ich sage: Das kann ich in dem Augenblick, wo ich das tue, als solches genießen. Ich habe immer gern geschrieben, habe mich lange nicht getraut, es zu veröffentlichen, was ein bisschen seltsam klingt, wenn man sonst die Öffentlichkeit ja nicht wirklich scheut. Als Jugendlicher habe ich schon gerne geschrieben und irgendwann hatte ich mir damals schon gesagt, es wäre schon schön, wenn man etwas mehr daraus machen könnte. Dann hat es halt ein paar Jahre gedauert, bis es dann wirklich so weit war.

    Rainer Münch: Empfinden Sie dieses künstlerische Werk auch nochmal als besondere Verbindung zu Ihrem Vater?

    KT zu Guttenberg: Ja, es ist so ein kleiner innerer Dialog, der immer mal wieder stattfindet mit ihm, obwohl er jetzt nicht mehr auf dieser Erde herumstapft. Aber wir haben uns viel über seine künstlerische Tätigkeit ausgetauscht. Das hat mir damals auch viel Freude bereitet, weil es für mich auch ein Ausbrechen aus meiner Routine war. Und genauso leidenschaftlich hat er über Politik geschimpft und gesprochen. Er hat mich immer ermuntert zu schreiben. Er hat sich das auch gewünscht, weil er kannte die Dinge, die ich unveröffentlicht hatte, habe ich ihm ab und zu mal was rübergeschoben. Und das war etwas, was er versucht hatte, bei mir immer noch ein bisschen mehr herauszufordern. Vielleicht war dann auch gerade deswegen so ein bisschen so eine Blockade oder Abwehr oder Gegenhaltung. Und ich ertappe mich manchmal, dass ich einen, einen jetzt - das ist jetzt kein Gespräch -, aber dass man das Gefühl hat, man tauscht sich noch mal post mortem über dieses Thema aus und das macht mir durchaus Freude.

    Rainer Münch: Vielleicht jetzt zurück sozusagen zur Profanität von Purpose vs. Profit und auch im Politikkontext habe ich eine moralische Frage mitgebracht. Denn dieser Konflikt, dieses Spannungsfeld ist ja auch in der Politik omnipräsent, wenn man daran denkt Steuersenkungen oder Klimafonds, mehr Staatsverschuldung oder mehr Generationenvorsorge. Wie viel Profit-Fokus benötigt Deutschland denn aus Ihrer Sicht für eine stabile Zukunft?

    KT zu Guttenberg: Mehr als manche Deutschland gerne zugestehen wollen und weniger als der eine oder andere Raffgeier es gerne verwirklicht sehen würde. Also das ist jetzt nicht eine typisch politische Antwort, sondern ich glaube, dass sich diese beiden Aspekte nicht ausschließen, sondern dass es eine vernünftige Grundlage geben muss, die wir über Jahrzehnte nicht hatten. Übrigens auch damals während meiner Mitverantwortung. Wo wir es einfach versäumt haben, die notwendigen Investitionen in dieses Land zu machen, um dieses Land so stabil aufzustellen, dass man genau die Dinge, die Sie im zweiten Atemzug genannt haben, dann letztlich sich auch noch besser leisten zu können, als wir es jetzt tun. Es gegeneinander auszuspielen heißt nur, dass man im Grunde die Gräben vertieft in einer Gesellschaft. Und wenn man das jetzt mit dem Begriff Profit verbindet: Profit hat so eine durch und durch negative Konnotation. Ohne Profit ist man aber auch kaum lebensfähig als Individuum und auch nicht als Staat. Als Unternehmen sowieso nicht. Und ich glaube, dass man durchaus dem Begriff Profit eine etwas positivere Konnotation geben muss, weil es letztlich dazu führt, ich gebe jetzt mal ein Beispiel: Wir haben jetzt ein wahnsinniges Paket plötzlich entschieden bekommen von einer Billion Euro. Und das war etwas, was davor brachial von einem Teil abgelehnt wurde, von dem anderen immer gefordert wurde, aber von dem anderen Teil eher so, dass man gesagt hat, damit versucht man alle zu beglücken, Schulden sind uns scheißegal. Andere haben gesagt, Schulden können uns nicht scheißegal sein, weil wir letztlich auch nicht mit voller Wucht gegen die Wand fahren können und es dann den nächsten Generationen einfach nur noch um die Ohren fliegt. Wenn man aber ein Investitionspaket auflegt und von vornherein sagt, es darf nicht profitabel sein, werden Sie eines nicht gewinnen, was man in einer solchen Phase auch braucht, nämlich Leute, die bereit sind, weil sie an ein Land glauben, auch zu investieren in dieses Land. Dann muss der Gedanke dabei, muss gegeben sein, dass das profitabel ist. Und das sind Investitionen, die brauchen wir von außen wie von innen. Und deswegen plädiere ich dafür, nicht sich nur von geifernden Profitdenken leiten zu lassen, aber Profitdenken zuzulassen, weil es am Ende letztlich auch am Profit liegt, ob man genug hat, um Klimaschutzmaßnahmen entsprechend wirksam sich leisten zu können, um entsprechend den Ärmsten auf dieser Welt helfen zu können, um Maßnahmen treffen zu können, dass eben die Fluchtursachen dort bekämpft werden, wo sie stattfinden und, und, und. All das kann man weiterführen. Aber sich alleine auf das Letzte zu verlegen und zu sagen: Das andere ist das komplette Gegenmodell, ist einfach hanebüchener Unsinn. Also diese, dieses Denken miteinander zu verschränken, ist genau das, worüber wir ja vorhin auch schon gesprochen haben, dass man beginnt in der Mitte, sich irgendwo mal zu treffen und zu sagen: Das eine kann ohne das andere nicht existieren. Ansonsten ist man einfach nur in romantischer Träumerei gefangen. Und da läuft man eben Gefahr. Und in der heutigen Verkürzung der Kommunikation - sind wir wieder zurück bei unter anderem den sozialen Medien und all das, weil es die Verkürzung auch immer gab - Schlagworte einfach nur, ideologisiert das Ganze. Müssen diese Züge gegeneinander brummen? Anstatt dass man beginnt, sich nebeneinander in die Lok zu setzen und sich auf einen Zug zu verlegen.

    Rainer Münch: Was ist denn dann die Rolle und auch die Verantwortung der Politik und der Politiker / Politikerinnen, das Ganze zu moderieren, diesen Kompromiss? Ist es am Ende nur ein Aufgreifen der gesellschaftlichen Schwingungen und dessen, was da gerade passiert? Oder kann man da wirklich auch beeinflussen, aufklären, entwickeln? Was ist da Ihre Erfahrung und Ihre Einschätzung?

    KT zu Guttenberg: Na ja Herr Münch, mit Moderation alleine ist es nicht getan. Es reicht auch nicht, nur zu grübeln und zu sagen: Ja, netter Gedanke, ich kenne mich nicht aus. Ich denke mal drüber nach und dann schauen wir mal, was daraus wird. Das soll's ja auch in den letzten Jahren gegeben haben. Das ist zwar zunächst mal sympathisch, wenn ein Politiker zugibt, er weiß von etwas auch mal nichts und es kommt immer nicht nur wie aus der Hüfte geschossen eine schnelle Antwort raus. Aber es ist schon so, dass man natürlich neben der notwendigen Moderation, die es geben muss, auch in der Lage ist, Konzepte zu entwickeln, sich aber auch mal in der Lage zeigt, Konzepte zu korrigieren und nicht auf Teufel komm raus an allem festzuhalten, was man irgendwann mal von sich geblökt hat, sondern dass Dinge dann eben auch diesen formenden Prozess durchlaufen. Und Politik ist eben, geht weit über Moderation hinaus, weil natürlich wird im Zusammenspiel einer Regierung mit einem Parlament in unserer repräsentativen Demokratie, ebenso wie es gestaltet ist, werden Entscheidungen getroffen. Und diese Entscheidungsfähigkeit ist schon auch etwas, was, glaube ich, Menschen erwarten. Sie erwarten schon auch, dass man nicht über Jahre Prozesse zerredet, sondern dass man dann irgendwann auch sagt: Okay, hier sind die Argumente entsprechend relativ deutlich auf dem Tisch. Die mögen konträr sein. Und dann hat man eine gewählte Regierung, die dann eine Entscheidung trifft. Die diese Entscheidung aber so kommunizieren muss, dass die Menschen das Gefühl haben, wir wissen, woran man ist. Woran es oft mangelt, ist, dass man aus der Feigheit vor dem nächsten Shitstorm oder ähnlichen Dingen diese Kommunikation windelweich macht und trotzdem eine harte Entscheidung trifft und dann fühlen sich die Menschen zurecht verarscht. Ich glaube, dass es vielmehr darauf ankommt, wieder sehr deutliche Sprache zu benutzen, ohne zu verletzen dabei, aber einfach deutlich zu machen: Das ist die Marschrichtung, für die wir uns jetzt entschieden haben, und damit Verlässlichkeit zu zeigen. Das Schlimmste, was man an Bild vermitteln kann, ist, dass man in einer Dauerkonsenssuche ist, aber gar nicht zum Konsens kommt. Oder einfach dieses Fähnlein im Winde. Dass man sagt: Na ja, Bevölkerung vergisst schnell. In einem halben Jahr mussten wir uns den Umständen soundso wieder anpassen. Anpassungen wird es immer geben und geben müssen, weil sich die Weltlage so schnell und so dramatisch verändern kann, wie sie sich oft verändert. Aber es wird ja gerne von diesem sogenannten Kompass gesprochen. Und wenn man weiß, bei denen sind wir so dran, ich teile vielleicht diese Meinung nicht, nimmt man einer zunehmend sich gehässiger begegnenden politischen Landschaft, aber auch in Teilen der Gesellschaft, ich glaube schon, einen Teil des Stachels. Und das ist auch etwas, was nicht unmöglich ist. Und wir sind wieder beim Ausgangspunkt: Wie begegnet man sich? Wie geht man miteinander um? Und wie sehr ist man bereit, Gestaltungskraft durch dann auch eine entsprechende nach außen getragene Überzeugung zu vertreten? Und da mangelt es in meinen Augen schon noch an vielen Ecken und Enden, weshalb es so wichtig ist, dass man einfach auch im politischen, unter dem großen politischen Zirkuszelt unabhängige Köpfe mehr und mehr auch zulässt. Da gibt mir die jetzige Konstellation eine gewisse Hoffnung. Wird man sehen, wie sich, wie sich das schüttelt. Aber die Unabhängigkeit erlaubt eben auch, dass man einfach mal vielleicht noch etwas offener ausspricht, das was man denkt. Ich habe immer das Gefühl gehabt, dass das bei den Menschen besser ankommt als dieses windelweich gewaschene oder nur apodiktische Festhalten an Thesen, die sich in dem Moment, wo sie ausgesprochen werden, schon erschöpft haben.

    Rainer Münch: Ich würde Ihnen komplett zustimmen, dass ich auch mehr harte Wahrheiten und das Aussprechen harter Wahrheiten sehr begrüßen würde. Zugleich ist mein Eindruck, dass das politische System das nicht ausreichend unterstützt und dass es Raum gibt für populistische Relativierung, die den Menschen einfache Botschaften vermittelt und die dann eben doch zur Wahl führen. Wie kommt man aus diesem Dilemma wieder heraus?

    KT zu Guttenberg: Ja, ist es das politische System oder es ist eigentlich mittlerweile eine gesellschaftliche Gesamtplattform, auf der man sich befindet? Das ist eben die Frage. Und oftmals ist natürlich das politische System nicht nur ein Spiegel, sondern ein Zerrspiegel einer solchen Gesellschaft. Gerne ein Zerrspiegel. Und je weiter man an die Ränder geht, umso verzerrter. Obwohl die behaupten, dass sie eigentlich der absolut klarste Spiegel sind. Das lässt sich eigentlich relativ leicht entlarven. Ich meine, wir kommen wahrscheinlich am ehesten aus, aus dieser-- das hat was Dilemmatisches -, aber aus dieser selbst gestellten Falle heraus, indem man nicht beginnt, Grabgesänge auf die Demokratie anzustimmen, sondern sich wieder zurückzubesinnen: Was heißt eigentlich Demokratie? Und sich auch selbst als Wähler die Frage zu stellen: Komme ich diesem Grundsatz nach? Was ist denn die Alternative? Will ich einen Autokraten? Will ich einen Diktator, der ja möglicherweise innerhalb von wenigen Minuten eine Entscheidung trifft, manchmal auch komplett ohne Abwägung? Da weiß man manchmal sehr schnell, woran man ist. Aber ich glaube, viele würden das wahrscheinlich als Konsequenz eher ablehnen. Oder muss man sich nicht selbst überprüfen, dass man sagt, Demokratie lebt davon, dass man gewählte Vertreter irgendwohin schickt? Man gibt ihnen einen gewissen Vertrauensvorschuss, der aber oftmals nicht mehr lange … früher hat man noch 100 Tage gegeben. Das ist lange vorbei. All dieses, all diese Riten, die man damals hatte, ist wahrscheinlich auch schwieriger geworden. Aber dass man dann auch akzeptiert, dass Entscheidungen getroffen werden müssen, die in einer Demokratie, insbesondere in einer solchen, die auf Koalition angewiesen ist, zwingend eines Konsenses bedürfen. Und ich komme zurück zu dem, was wir ganz zu Beginn diskutiert haben. Konsens ist nichts zunächst einmal bitter Negatives. Wir begreifen es oftmals aber so, weil wir es als Niederlage empfinden, weil etwas abgeschliffen wird, weil eine andere Position mit hineinkommen muss und Ähnliches. Und je weniger wir bereit sind, als Wählerinnen und Wähler diesen Aspekt zu akzeptieren, desto mehr leidet das Prinzip der Demokratie. Und das hat man eben wie unter dem Brennglas jetzt in den USA gesehen und sieht es dort auch und man sieht es eben bei uns vergleichbar. Ich komme immer wieder zu dem Punkt zurück, dass wir nicht nur den Spiegel mit der Holzwand hinten Richtung Politik halten und sagen: Schaut mal da rein, was ihr da alles für einen wahnsinnigen Unsinn macht. Sondern dass es sich empfiehlt, einen Spiegel zu haben, der auf beiden Seiten eine spiegelnde Fläche hat, der einem immer wieder dann auch zeigt: Vieles davon beginnt bei jedem Einzelnen. Und dann ist oft die Antwort: Ja, aber ich als Einzelner kann ja nichts ausrichten. Unsinn. Jeder kann in seinem kleineren oder größeren Netzwerk sehr viel ausrichten und hat dort Multiplikatorenwirkung. Ja, und manche haben eine Multiplikatorenwirkung, weil sie sich abends in Talkshow setzen, ich auch gelegentlich, wo man sehr viel mehr erreicht. Dann ist die Verantwortung vielleicht noch ein Stück höher in dem Moment. Aber die Verantwortung ist nicht fundamental geringer, wenn man diese Debatte in der Familie führt, im Freundeskreis oder mal mit solchen, mit denen man sich eigentlich gar nicht mehr unterhalten will, weil man ihre Thesen für grauslig hält. Nein, vielleicht sollte man sich gerade mit denen unterhalten und manchmal auch aushalten, dass man auseinandergeht und sagt: „We agreed to disagree." Aber wir haben uns nicht totgeschlagen dabei.

    Rainer Münch: Der doppelte Spiegel ist eine wunderbare Überleitung zur Frage von Max Frisch, die Sie sich ausgesucht haben. Nämlich: Überzeugt Sie Ihre Selbstkritik? Warum sind Sie gerade an der Frage hängen geblieben und was ist Ihre Antwort darauf?

    KT zu Guttenberg: Nun sind die Frisch‘schen Fragen -, nicht die frischen, sondern die Frisch‘schen Fragen -, jede einzelne von denen ist es wert, immer mal wieder gestellt zu bekommen. Und es ist schwer, da sich auf eine zu beschränken. Aber ich fand diesen Satz „Überzeugt Sie Ihre Selbstkritik?" zunächst einmal so, dass ich innehalten musste und man gerne reflexhaft sagen würde: „Na selbstverständlich, ich bin ein ausgesprochen selbstkritischer Mensch, kann über mich lachen, habe offensichtlich auch was Selbstironisches" und, und, und. Mag sein. Aber natürlich gibt es Momente, wo einen Selbstkritik nicht überzeugt. Also Antwort: Nein. Oft mal ja und rückblickend auch ja, wiederum aber immer jetzt auch von der Geisteshaltung getragen, die ich Ihnen vorhin vorgetragen habe, dass der Rückblick nicht überwölbend sein sollte. Und deswegen überzeugt mich, ist überzeugen einfach ein viel zu hart, ein viel zu glorreiches Wort für das, was die menschliche Schwäche am Ende nicht zulässt. Und ich bin eigentlich nie gänzlich überzeugt von dem, was ich mache, sondern glaube, dass es immer wieder noch, es hätte etwas besser gehen können. Da muss man aufpassen, dass man nicht in einen so kranken Perfektionismus abrutscht. Aber ich habe zumindest in den letzten Jahren sehr viel mehr Selbstkritik lernen dürfen und zugelassen, als ich es in meinen jungen Jahren hatte, aber das liegt wahrscheinlich auch in der Natur des Menschen. Und ich blicke sehr vergnügt heute auf manche meiner Fehler. Und ich blicke aber eben auch mit dem Haken dessen, dass ich sagen kann oder mit dem Bewusstsein, dass ich sagen kann, ich habe einen Haken dahinter gemacht und kann sowohl mir verzeihen als auch gerne anderen, die einem Unrecht getan haben oder die manchmal etwas zurecht getan haben, was aber einen verletzt hat. Und da ist es eben ganz wichtig, dass man nicht nur selbstkritisch ist, sondern dass man vielleicht auch darüber hinausgeht, dass man die Fähigkeit hat, sich und anderen zu verzeihen. Und da bin ich sehr angekommen und aber immer wieder unzufrieden mit der eigenen Selbstkritik.

    Rainer Münch: Lieber Herr zu Guttenberg, das würde ich gerne als Schlusswort so stehen lassen. Ich danke Ihnen herzlich, dass Sie zu Gast waren bei Purpose versus Profit. Es hat mir große Freude gemacht.

    KT zu Guttenberg: Mir hat es auch viel Freude gemacht, Herr Münch, und wir haben vergleichsweise wenig über Purpose versus Profit geredet. Aber das kommt davon, wenn Sie sich so einen Gast einladen.

    Rainer Münch: Herzlichen Dank.

    (Das Gespräch wurde aufgezeichnet am 10. Juni 2025)

    Karl-Theodor zu Guttenberg ist zu Gast bei Purpose vs. Profit. Der ehemalige Spitzenpolitiker ist heute als Unternehmer, Autor, Dokumentarfilmer und Moderator aktiv. Im Gespräch mit Rainer Münch geht es um die Frage, wie viel Profitorientierung Deutschland tatsächlich braucht und welche Auswirkungen dies auf den Purpose hat.

    Darüber hinaus sprechen die beiden über Themen wie seine persönliche Entwicklung, die enorme Bedeutung von Offenheit und Toleranz sowie die Rolle sozialer Medien. Zu Guttenberg teilt auch seine große Leidenschaft für die Literatur und gibt einen kleinen Ausblick auf sein bald erscheinendes Buch: "3 Worte: Neue Notizen aus der Gegenwart“. Wir wünschen eine erfolgreiche Veröffentlichung!

    Das Gespräch wurde aufgezeichnet am 10. Juni 2025.

    Den Podcast gibt es hier:  Apple Podcasts | Spotify | Youtube

    Rainer Münch: Willkommen bei Purpose versus Profit. Ich bin Rainer Münch und ich unterhalte mich hier mit meinen Gästen über die Werteorientierung im Geschäftsleben. Mein heutiger Gast ist Karl-Theodor oder auch KT zu Guttenberg, aktuell Multi-Unternehmer und ehemals Spitzenpolitiker. Zur Aufnahme treffen wir uns in unserem Münchner Büro. Mein Gast hat eine Wohnung in München und kommt mit dem Fahrrad. Sein Auftreten ist unprätentiös, offen und nahbar. Ich frage ihn, wieviel Profit-Orientierung Deutschland jetzt braucht und was dann mit dem Purpose passiert. Wir sprechen aber auch über seine persönliche Entwicklung, die enorme Bedeutung von Offenheit und Toleranz, über die Rolle sozialer Medien und seine große Leidenschaft für Literatur. Ich habe KT zu Guttenberg als bemerkenswert reflektiert, selbstkritisch und weltoffen erlebt. Und nun viel Spaß mit der heutigen Folge.
    Nach einer dynamischen Karriere in der Politik ist KT zu Guttenberg heute als Unternehmer, Autor, Dokumentarfilmer und Moderator tätig. Mit dem sehr zu empfehlenden Podcast "Gysi gegen Guttenberg“ setzt er seit zwei Jahren ein starkes Zeichen für einen konstruktiven Austausch und Dialog über politische Gesinnungsgrenzen hinweg. Seine Beobachtungen und Reflektionen aus dem Alltag teilt er mit großem Erfolg auf LinkedIn und zwischenzeitlich auch in Buchform. Im August erscheint sein zweites Buch "3 Worte: Neue Notizen aus der Gegenwart“, aufbauend auf dem Erfolg seines Erstlingswerks. Er ist Vater von zwei Töchtern und lebt wechselweise in Deutschland und den USA. Lieber Herr zu Guttenberg, herzlich willkommen bei Purpose vs. Profit.

    KT zu Guttenberg: Eine Freude, heute bei Ihnen zu sein. Ein herausfordernder Titel des Podcasts und Herr Münch: Schön, Sie kennen zu lernen.

    Rainer Münch: Herr zu Guttenberg, bevor wir auf dieses herausfordernde Spannungsfeld Purpose vs Profit eingehen, hätte ich zunächst eine persönliche Frage an Sie: In der öffentlichen Wahrnehmung gibt es ein Bild von Ihnen bis zum Rückzug aus der Politik und ein recht anderes nach der Rückkehr in die Öffentlichkeit. Mich würde interessieren, inwiefern sich aus Ihrer Sicht "diese beiden Personen“ unterscheiden. Hat da eine große innere Veränderung stattgefunden oder ist der Kontrast eher eine Frage der Darstellung und Wahrnehmung?

    KT zu Guttenberg: Es ist natürlich die gleiche Person, aber eine Person, die Entwicklungen unterworfen ist, wie sie das Leben letztlich zeichnet. Und von daher ist, glaube ich, die Unterschiedlichkeit eher eine, die durch den Blick von außen, auch durch die Medien, noch mal hervorgehoben wird, die aber der eigenen Empfindung kaum gerecht werden kann. Das Leben ist ein Prozess. Und in dem Prozess ist man in den unterschiedlichsten Einschlägen unterworfen, ist Wandlungen unterworfen, aber bleibt hoffentlich der Gleiche, die gleiche Person sowieso, der gleiche Mensch ohnehin. Und vielleicht für manche in der Wahrnehmung von außen schon auch mal ein verändernder, sich verändernder Charakter. Das mag sein. Aber ich sehe diesen prozessualen Charakter einfach und von daher würde ich mich dem Blick nicht anschließen, dass man hier zwei vollkommen verschiedene Menschen hat. Das ist Unsinn.

    Rainer Münch: Würden Sie sagen, dass Sie heute mehr Raum haben, authentisch zu sein, als früher?

    KT zu Guttenberg: Ja, das mit Sicherheit, wenn man den politischen Teil des Lebens mit einbezieht. Nun war der ja nicht wirklich mein ganzes Leben. Ich bin heute schon maueralte 53, und das war ein Zeitraum, der etwa zehn Jahre umfasst hat. Also ist das ja auch letztlich nur eine Facette. Sicherlich eine sehr öffentlichkeitswirksame, eine, wo auch sehr grelles Licht auf einem ruhte und wo man gelegentlich sicher auch mal dieses Licht suchte. Aber es ist schon so, dass man in dieser Zeit als solches die Authentizität schleift und sie zum einen von außen geschliffen wird, aber in Teilen natürlich auch selbst sich darauf einlässt. Woran liegt das? An den Fliehkräften des politischen Geschäftes. Also Sie sind schon sehr, sehr von den Wuchten und Unwuchten als solches teilweise getrieben, teilweise entsprechend verplant. Und die Zeit zu reflektieren, die Zeit, immer mal wieder seinen eigenen Charakter zu überprüfen, die Zeit, sich Gedanken zu machen, wie viel ist von meiner Unabhängigkeit noch da, was ja auch ein Teil einer, zumindest nach meinem Verständnis, der Authentizität ausmachen kann, wird immer geringer. Und ebenso gering wird die Zeit, die man mit den Menschen verbringt, die der Authentizität am nächsten sind. Und wenn plötzlich die Authentizität rein nur noch politisch bestimmt wird oder sich von ihr formen lässt, dann läuft etwas schief. Und das war sicher auch einer der Gründe, warum ich irgendwann gesagt habe: Ich muss aus dem Geschäft auch wieder raus.

    Rainer Münch: Würden Sie denn sagen, dass sich die Welt da weiterentwickelt hat und dass die Rahmenbedingungen heute anders sind als noch zu Ihren Zeiten als aktiver Politiker? Oder ist das weitgehend unverändert?

    KT zu Guttenberg: Ich glaube, sie ist noch ein bisschen unerbittlicher geworden, sie ist noch ungnädiger geworden und sie ist noch gehetzter geworden. Das Gehetzte zeigt sich darin, dass man noch weniger Zeit hat, sich auch mal Gedanken über die Substanz der Dinge zu machen, über die man entscheidet und die ja meistens nicht unerheblich sind, insbesondere wenn man in der Spitzenpolitik tätig ist. Und von daher ist, glaube ich, schon in den letzten fünfzehn Jahren einiges geschehen, das nicht auch zur Qualität politischer Entscheidungsfindung, auch medialer Begleitung, auch des jeweiligen Diskurses zwischen Politik und Bevölkerung und umgekehrt beigetragen hat. Da spielen viele Faktoren eine Rolle. Ich glaube, wir werden sicher heute noch mal etwas tiefer diskutieren, auch über die Kraft sozialer Medien. Man kann sich sicherlich streiten darüber, ob soziale Medien wirklich so viel verändert haben. Was sie aber gewiss verändert haben, ist der Zeitraum, in dem man heute reaktionsfähig sein muss in der Politik. Früher hatte man manchmal ein paar Stunden, manchmal eine Nacht, vielleicht auch mal ein paar Tage, um auf Anwürfe, um auf Anfragen, um auf investigative Dinge zu reagieren. Heute sind einem maximal zehn Minuten gegeben und diese zehn Minuten entscheiden darüber, ob man einen Shitstorm zu reiten hat oder zu durchreiten hat, oder ob man irgendwie so gerade noch mal mit einem blauen Auge davongekommen ist. All das trägt nicht zur Qualität in der Politik bei.

    Rainer Münch: Gibt es da etwas, was Ihnen Hoffnung macht, dass sich das in Zukunft auch wieder bessern kann und die Rahmenbedingungen stärker werden für sehr gute politische Entscheidungen?

    KT zu Guttenberg: Manchmal habe ich diesen Gedanken, dass es wahrscheinlich eines veritablen Orkans bedarf, um so etwas wie eine Katharsis auszulösen. Ob man sich das wünscht, ist eine ganz andere Frage. Ich glaube aber, dass wir in so einem Orkan stehen und dass wir – viele reden ja von einer von einer Welt, die in einem Multikriseneffekt gerade gefangen ist. Das mag richtig sein. Ich glaube, was dazukommt, ist, dass die Vernetzung vieler Krisen aufgrund der Entwicklungen der letzten Jahrzehnte, gar nicht der letzten Jahre, zumindest in der Wahrnehmung zugenommen hat. Eine Vernetzung hat es immer gegeben, aber die Wahrnehmung hat zugenommen und mit der Wahrnehmung dieser Vernetzung hat auch die Überforderung und die Überwältigung vieler Menschen zugenommen und die Unzufriedenheit gegenüber dem Politikschaffenden, weil man plötzlich nicht nur sich an zwei, drei Themen in irgendeiner Form kritisch versucht entlang zu hangeln und die oftmals sicherlich auch gegebenen Schuldigen in den Politikschaffenden sucht, sondern es sind viele und es sind es sind zahlreiche, zahlreiche Themen, wo diese Überforderung sichtbar wird. Und vor diesem Hintergrund glaube ich, dass das Verhältnis natürlich noch mal als solches schwer gelitten hat. Und da unterscheiden sich politisches Verhalten und politische Entscheidungsfindung und eben die Möglichkeit der Selbstüberprüfung, ob Dinge richtig oder falsch sind, schon, glaube ich, nicht unmaßgeblich von dem, was man vielleicht 10, 20, 30 Jahre vorher hatte.

    Rainer Münch: Eine wichtige Rolle spielt in dem Kontext sicherlich auch die Werteorientierung, dann auch in der Politik, dass es einen gewissen Nordstern gibt, einen Kompass. Was ist da Ihre Beobachtung? Wo steuern wir da hin? Werden Werte wichtiger, zentraler für die Politik, für die Gesellschaft oder wird das gerade eher verwässert?

    KT zu Guttenberg: Ich habe das Gefühl, dass beides ein wenig zutrifft und aber immer in der Übersteigerung. Also es ist wenig von dem sogenannten Middle Ground spürbar, dass man einfach sagt, man versucht zunächst einmal einen Schritt zurückzugehen und sich zu fragen: Muss es immer die Maximalforderung sein oder gibt es etwas, was auch noch konsensfähig ist und wo man auch zufrieden sein kann, dass man vielleicht nicht sein, das Hundertprozentige des eigenen Wertempfindens geliefert bekommen hat in einer Antwort oder in einer politischen Handlung? Aber dass man auch sagen kann, es wurde zumindest etwas erreicht. Und nun jonglieren einige mit Werten, die sie gar nicht selbst leben. Das erlebt man tatsächlich jetzt auch in alten Demokratien, insbesondere in den USA. Das nimmt aber auch bei uns zu. Andere gebrauchen den Begriff Werte, um letztlich sich lediglich in einer Ablehnung aktuellen politischen Handelns zu bewegen. Das ist etwas, was beispielsweise bei uns die AfD sehr erfolgreich bespielt, diese Klaviatur, aber teilweise auch ganz links außen. Also die Ränder bedienen sich dessen und damit werden Werte mit der Angst vor Verlust verbunden. Und für viele Menschen ist es auch die Angst vor dem Verlust von Werten, obwohl sie sich manchmal schwertun, diese Werte selbst zu formulieren und zu definieren. Und deswegen ist Ihre Frage so einfach nicht zu nicht zu beantworten. Ich glaube, dass man in der Politik manchmal gar nicht dazu kommt – jetzt komme ich wieder zurück zu dem, was Sie vorhin gesagt haben –, angesichts dieses ungnädigen Tempos, in dem man sich da befindet, überhaupt noch Werte durchzudeklinieren und diese Werte auch vorzuleben dann entsprechend, auch wenn man es gerne behauptet, und in der Umkehrung natürlich diese Erwartungshaltung wächst, weil es immer weniger erkennbar wird. Und das führt dann zu diesen Maximalhaltungen.

    Rainer Münch: Wie würden Sie Ihre persönliche Werteorientierung beschreiben? Was ist Ihnen wichtig?

    KT zu Guttenberg: Ich bin kein Eklektiker, was das anbelangt. Aber auch da trifft das zu, was ich am Anfang angesprochen habe. Manches ist ein Prozess. Ich bin in einem vergleichsweise konservativen Umfeld aufgewachsen, wobei das auch immer wieder durchbrochen wurde. Ich bin mit meinem Vater groß geworden, der zum einen teilweise brachial konservative Werte gelebt hat, zum anderen aber eine durch und durch eine Künstlernatur war. Er war Dirigent und war, er hat auch jedes Klischee eines Künstlers erfüllt mit Überzeugungen, die eigentlich ein absoluter Kontrapunkt zu seinen dann immer wieder fast krampfhaft gelebten konservativen Werten waren. Für mich sind Werte dahingehend entscheidend, wenn sie dazu beitragen, dass eine Gesellschaft zusammenhält und dass man es schafft, unterschiedliche Denkweisen und Überzeugungen zu überbrücken. Und auch da ist manchmal der Maximalwert wahrscheinlich nicht immer der hilfreichste. Also auch da schließt sich so ein bisschen ein Kreis zu dem, was ich vorhin gesagt habe. Und deswegen ist manches, was mich prägt und wo ich immer wieder mich auch darauf berufe, sind schon, sagen wir mal, die Gerüste, die sich bei uns im christlichen Abendland, im christlich-jüdischen Abendland herausgebildet haben, welche, mit denen ich mich selbst überprüfe, aber auch immer wieder versuche, eine Gesellschaft zu überprüfen, ohne dabei jetzt eine religiöse Knute walten zu lassen, sondern es ist ja manchmal wirklich sind es Vernunfterwägungen, die aus dem Schrecken, zu dem Menschen in der Lage sind, sich entwickelt haben und die über Jahrtausende hinweg Bestand hatten. Und hier muss man die Welt nicht ständig neu erfinden. Also da finde ich relativ viel, was sich bei mir spiegelt und wo ich aber dann auch immer wieder sage, man darf sich und die Menschen damit auch nicht überfordern, und das Koppeln mit der Überforderung, mit den Punkten, die wir gerade schon andiskutiert hatten.

    Rainer Münch: Sie hatten in diesem Jahr das Pfingstfest genutzt, um in einem LinkedIn-Beitrag zum Thema Verständigung zu reflektieren. Zu Pfingsten soll ja laut christlicher Überlieferung der Heilige Geist die Jünger Jesu befähigt haben, viele Sprachen zu sprechen und zu verstehen und damit die Verständigungsbarrieren zu überwinden. Da stellen Sie die schöne Frage „Wir reden viel – aber hören wir auch zu?“. Sie schreiben, dass in der heutigen Gesellschaft mehr Brücken gebaut werden sollten, dass man sich zuhört und verständigt. Aber sie beobachten, dass an vielen Stellen das Gegenteil passiert, dass es immer fragmentiertere Milieus gibt, die in sich kommunizieren, aber immer weniger Brücken bauen. Das führt zu meiner Frage: Was können wir tun? Was kann ich tun, um das zu ändern, um dagegen zu steuern?

    KT zu Guttenberg: Also zunächst einmal noch mal zurück zum Pfingstfest. Heute weiß kein Schwein mehr eigentlich, was das Pfingstfest eigentlich ist. Also ich würde sagen, es ist eher die Minderheit und die anderen, für die ist es ein willkommenes langes Wochenende. Und ich habe das zum Anlass genommen, um mir noch, mal mich einfach zu fragen: Was ist der Ursprung? Und daran muss man nicht glauben. An den Heiligen Geist und die Zungen, die vom Himmel kamen und all das, damit tue ich mich selbst auch schwer. Aber der Grundgedanke ist: es gibt ja zwei, die man anlegen kann. Einer ist ein hoch theologischer und das andere ist einer, den man übertragen kann auf uns heute. Und das ist das, was Sie genannt haben, nämlich: Ist man heute überhaupt noch zur Kommunikation in der Lage, um Barrieren zu überwinden? Und das bringt mich jetzt noch mal etwas konkreter zu den Werten, die Sie vorhin angefragt haben und zu Ihrem wichtigen Einwurf jetzt: Was kann jeder Einzelne tun? Ich glaube, und das klingt für manche ganz banal und für manche unglaublich schwierig: Begriffe wie Offenheit und Toleranz, weil das nicht immer zwingend das Gleiche ist. Begriffe wie eine oder Begriffspaare wie eine nicht spaltende Tonalität ist nun wirklich nicht etwas, wofür es einen Heiligen Geist braucht, noch ist es etwas, was man einfach mal mit leichter Hand erstmal von den Gewählten oder von Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen, fordern sollte. Da kann jeder bei sich selbst beginnen. Das kann jeder zu jedem Zeitpunkt des Tages an sich üben und mit sich üben. Und das ist wie ein Muskel, den man trainiert. Und wenn man Menschen, mit Menschen spricht und sie erstmal darauf anspricht, und sagt: Fühlen Sie sich als ein toleranter und offenherziger, offener Mensch? Die meisten antworten erst mal aus der Hüfte mit Ja. Und wenn man dann etwas nachhakt und etwas tiefer geht und das an Themen festmacht, stellt man auch nicht selten fest, dass es nicht zwingend so weit hergeholt ist mit dieser grundsätzlichen Offenheit, dass auch Gelten lassen einer anderen Meinung, dass man reflektiert, dass man versucht, zunächst einmal respektvoll mit jemandem umzugehen, der möglicherweise eine diametral andere Ansicht hat. Und es ist wirklich kein Hexenwerk, das im Umgang miteinander zu pflegen. Und dieser Umgang oder diese Form des Umgangs hat in wirklich bedenklicher Weise gelitten. Nun ist es nichts, was jetzt in den letzten drei, vier Jahren mal so eben vom Himmel gefallen wäre, sondern es ist ein Entwicklungsprozess, der lange zurückgeht und den man in besonderer Zuspitzung gerade in den USA sieht. Aber auch nicht zu knapp bei uns in Europa. Auch auf anderen Teilen dieser Welt und in anderen Teilen dieser Welt. Und deswegen glaube ich, dass man, zu Ihrem Ausgangspunkt noch mal zurückkommend, dass man bei so vielen Dingen vergleichsweise schmerzfrei bei sich selbst beginnen kann, aber der Reflex eben da ist, zunächst einmal mit dem nackten Finger auf andere zu zeigen und es erst mal von anderen einzufordern, bevor man an sich selbst zu üben beginnt.

    Rainer Münch: Wann kommen Sie an Ihre Grenzen, was Offenheit und Toleranz angeht?

    KT zu Guttenberg: Dann, wenn eine harte andere Meinung mit der Bereitschaft zur Gewalt verbunden ist, wenn es mit dem Willen zur Degradierung anderer verbunden ist, wenn es einfach auf eine vollkommene Unfähigkeit stößt, sich auch einmal selbst einer gewissen Veränderung zu unterwerfen, die einfach was mit Mitmenschlichkeit zu tun hat. Dafür muss man gar nicht den hehren Begriff der Nächstenliebe bemühen. Aber Mitmenschlichkeit als solche ist schon eine, die zumindest in meinen Augen die Basis ausbilden sollte. Aber ich habe trotzdem eine gewisse Offenheit auch gegenüber jenen, die dazu noch nicht in der Lage sind, aber sich selbst eine gewisse oder sich selbst bereit zeigen, sich dem anzunähern. Und sowas geschieht nicht über Nacht. Und deswegen sollte man all jene auch nicht fallen lassen, wo man sagt: Mein Gott, wie kann man sich weiterhin so verhalten, wenn gleichzeitig erkennbar ist, dass da schrittweise in die richtige Richtung marschiert wird? Also deswegen: Ich habe meine Toleranzgrenzen, ohne Frage. Und das ließe sich wahrscheinlich an noch zahlreicheren Beispielen aufzählen. Und trotzdem bin ich in den letzten Jahren sicher auch nach dem Ausscheiden aus der Politik offener, toleranter geworden als ich es war, weil man eben dann manchmal auch in einem inhaltlichen Korsett gefangen ist, wo man dann für seine Überzeugungen manchmal auch nicht nur gnädig streitet. Und dazu habe ich jetzt nicht wirklich immer geneigt, aber manchmal einfach auch blind für irgendwelche Vorgaben aus einer Partei, wo man eigentlich möglicherweise gar nicht alle Inhalte teilt, aber dann sagt, auch da darf eigentlich keine, darf kein Entgegenkommen herrschen, weil man auf Teufel komm raus gerade diese Überzeugung durchsetzen muss. Was für ein Bullshit! Und ich glaube, dass politisches Handeln und Agieren insgesamt auf fruchtbaren Boden auch in der breiten Bevölkerung fallen würde, wenn diese Bereitschaft etwas offener vorgelebt würde.

    Rainer Münch: Fällt Ihnen ein Beispiel ein, wo Ihre Offenheit zu einer ganz neuen Erkenntnis geführt hat, wo Sie auch sagen, vielleicht hätten Sie früher sich dem nicht so sehr geöffnet, aber jetzt mit einer Offenheit, mit einer Toleranz hat das einen Lerneffekt ermöglicht, den es sonst nicht gegeben hätte?

    KT zu Guttenberg: Ach, zahlreiche. Das ist manchmal, würde ich sagen, dass das fast täglich der Fall ist. Aber das hat auch sehr viel damit zu tun, dass man, dass ich heute etwas mehr Zeit habe als damals im politischen Leben oder mir die Zeit nehme, mich etwas tiefer mit Begründungsmustern zu befassen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel, das ist aber jetzt schon relativ lange her, dass dieser Prozess eingesetzt hat. Ich komme noch mal zurück auf meinen etwas erstaunlichen Vater, der zu den sehr frühen Verfechtern der Umwelt- und Naturschutzbewegung zählte. Also auch schon Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre, wo jeder noch mit brüllender Häme auf diese Thesen eingeschlagen hatte. Und ich war da sehr lange auch skeptisch. Das lag auch daran, dass er einfach ein in der Wolle gefärbter Apokalyptiker war und ständig die Welt untergehen sah. Und ich habe mich dagegen reflexhaft gewehrt, teilweise auch mit ganz guten Argumenten, weil die Welt ist zumindest zu seinen Lebzeiten nicht untergegangen und sie hätte mindestens 70 mal untergehen müssen, so wie er das erwartet hatte. Und ich habe mich damals eher mit Schlagworten der Gegenseite mit seinen Thesen befasst und wir haben uns da oft gerieben, uns trotzdem gemocht, aber das gab es da auch schon mal Diskussionen und Streit. Und rückblickend muss ich sagen, insbesondere zu dem Zeitpunkt, da lebte er ja auch noch, wo ich dann mich einfach etwas verantwortungsvoller mit seinen Thesen befasst habe, ich sagen muss, er hatte in vielen Punkten sehr recht. Ich glaube, er hat nicht immer die richtigen Mittel gewählt, um es durchzusetzen, weil er in der Hinsicht keinerlei Toleranz für die Gegenposition hatte. Aber es hat mich zum Umdenken gebracht und es ist für mich heute ein ganz, es ist ein wichtiger Punkt in meinem Leben und etwas, wo ich einfach sage: Was bedeutet Verantwortung in einem Leben? Und man macht sie, wenn man das Glück hat, Kinder zu haben, an seinen Kindern und hoffentlich irgendwann Kindeskindern fest, aber man macht sie auch in der Fortdauer am Fortleben einer Gesellschaft fest. Und da sich zu korrigieren, ist nun wirklich nicht etwas, was bei dem hübsch geputzten Krönchen auf dem Kopf irgendeinen Zacken rausbrechen ließe, sondern das war einer der Punkte, wo ich mich sicher korrigiert habe. Ansonsten gab es Dinge, die im außen- und sicherheitspolitischen Bereich eine Rolle spielten, die in gewissen gesellschaftlichen Fragen eine Rolle spielten. Ich habe mich mal teilweise sehr, auch sehr hart - ich habe eine sehr katholisch lebende Familie -, von deren Lebensentwürfen nicht abgewandt, aber sie sehr kritisch begleitet. Heute sage ich: Warum kann man das nicht auch bewundern, wenn jemand damit glücklich wird? Ich würde es nicht, aber auch das sind so Wandel und Wechsel, die, was Wertemuster anbelangt, dann einfach genau diese neue Offenheit plus sicher auch die von mir gewonnene Gelassenheit im Leben wahrscheinlich dann hervorgerufen hat.

    Rainer Münch: Sie hatten es vorher schon angeschnitten: Beim Thema Brücken bauen und aufeinander zugehen wird gerne erklärt, dass die Digitalisierung und diese Social-Media-Bubbles dazu führen, dass wir in der Gesellschaft mehr Fragmentierung und weniger Austausch beobachten. Zugleich gab es solche Entwicklungen in der Geschichte der Menschheit ja immer wieder, mit zunehmender Polarisierung und Fragmentierung, die dann schließlich kriegerisch aufgelöst wurden. Von daher meine Frage an Sie: Wird die Rolle der Medien da manchmal nicht überschätzt und liegt das Problem nicht tiefer?

    KT zu Guttenberg: Ja, es liegt dahingehend tiefer, weil die Medien alleine nichts verändern, sondern letztlich die Menschen, die diese Medien nutzen. Und deswegen muss man immer bei Menschen ansetzen. Und es sind Menschen, die diese neuen Plattformen geschaffen haben, manche aus einfach teilweise ganz platten monetären Gründen, andere, weil sie am Anfang vielleicht glaubten, die Welt verändern zu können und irgendwas Gutes zu tun, um dann festzustellen, dass ihnen manches hehre Ziel einfach mit voller Wucht um die Ohren fliegt. Also ein Mark Zuckerberg kann davon, glaube ich, viele Geschichten erzählen, andere auch. Ob er es immer ehrlich tut, ist eine andere Frage. Und deswegen haben Sie hier einen guten Punkt. Ich glaube trotzdem, einen Unterschied zu sehen. Die historische Analogie ist richtig. Der Unterschied liegt in der wirklich teilweise atemberaubenden Geschwindigkeit, in dem sowohl diese Medien Wirkung erzielen, als auch diese Medien ihren Siegeszug hatten. Also wenn man das vergleicht, beispielsweise mit der Druckerpresse aus dem fünfzehnten Jahrhundert oder wenn man es vergleicht, welche Formeln genutzt wurden, um beispielsweise die Grundsätze der Aufklärung in die Bevölkerung hineinzutragen. Wenn man es vergleicht damit, wie mit welchen unterschiedlichen Geschwindigkeiten teilweise das Nutzen von Medien in unterschiedlichen Teilen dieser Welt sich entwickelt haben und dann plötzlich diese Teile der Welt in Interessenskonflikten aufeinandertrafen. Und dass das natürlich dann noch mal zu auch extremen, auch kriegerischen Konflikten führen konnte. Dann glaube ich, dass man ja, dass man Gemeinsamkeiten hier sehen kann. Aber dass heute noch mal einfach die Zeit und dieses, diese Geschwindigkeit des Eintreffens zu kritisch selbst und mit anderen zu überprüfen, immer knapper wird, weil die Entwicklungssprünge so gewaltig sind. Jetzt kam in den letzten Jahren noch mal dieser Durchbruch mit künstlicher Intelligenz dazu. Ich bin fern davon, das zu verteufeln. Aber ich bin-- gehöre jetzt auch nicht zu den, zu den unkritisch zukunftsgläubigen Jüngern, die sagen, das ist mit keinerlei Risiken verbunden. Die Risiken manifestieren sich ja teilweise schon. Auf der anderen Seite bietet es natürlich auch unfassliche Möglichkeiten, die Menschheit, der Menschheit letztlich Zukunftsperspektiven zu geben, die positiv sind und auch Umgangsformen wieder zu verändern. Und das Potenzial, man muss einfach sagen, es ist da. Wir können es nicht mehr wegdiskutieren. Es wird nicht, es wird sich nicht pulverisieren, sondern der Mensch muss lernen, damit umzugehen. Und ich habe da große Hoffnung. Ich bin alles andere als ein hoffnungsloser Mensch. Und ich glaube auch, dass man jetzt gerade mit den Schockerlebnissen der letzten Jahre, wo man gar nicht mehr wusste, um Himmels willen, was holt mich da jetzt ein?, dass dieser Aspekt der Kontrolle wieder wichtiger wird und auch greifbarer wird. Wenn man begreift, dass man es mit einer neuen Form, insbesondere bei der künstlichen Intelligenz, des, eines Werkzeugs... Werkzeugs ist ein falscher Begriff. Es gibt Mustafa Suleyman, einer der AI-Wunderkinder, die da draußen herumspringen, von vielen auch kritisiert. Aber der hat einmal ganz, der hat einmal ganz klug gesagt gehabt, und ich halte das für gar nicht so falsch: Der Mensch war immer in der Lage, Werkzeuge zu schaffen und hat dann diese Werkzeuge kontrolliert und aus dem kontrollierten Werkzeug ist eine Kaskade neuer Werkzeuge entstanden. So, mit künstlicher Intelligenz ist das jetzt ein bisschen anders, weil der Aspekt der Kontrolle einfach kaum mehr so greifbar ist. In dem Moment, wo das mehr und mehr Menschen begreifen, glaube ich, wird man sich schon auch in der Lage zeigen, sicher eine neue Form der Kontrolle und auch nicht der alleinigen, aber so herzustellen, dass einem das nicht komplett um die Ohren fliegt. Diese Hoffnung habe ich. Ich kann sie nur als Hoffnung derzeit formulieren. Weiter geht's nicht. Aber es geht auch darum, diesen Gedanken in die Öffentlichkeit zu tragen, weil sich alleine überwältigt und verzweifelt und perspektivlos zu fühlen, ist keine Antwort. Und diese Perspektivlosigkeit ist dann wiederum letztlich etwas, was die Rattenfänger an den Rändern wieder nährt. Und dann sind wir wieder zurück bei der Ausgangsdiskussion, wie sich das politisch entwickelt. Also hier schließt sich auch ein Kreis.

    Rainer Münch: Wenn Sie es könnten, würden Sie Social Media beschränken?

    KT zu Guttenberg: Nein, ich würde die, ich würde die Kompetenz der Menschen versuchen so zu entwickeln – und das hat sehr viel mit Bildung und Ausbildung, digitaler Bildung, digitaler Kompetenz zu tun, all das –, dass der Umgang damit, die ganzen negativen Seiten, die wir kurz schon mal angerissen haben, dass man die einzuhegen versteht. Mit der Beschränkung als solches ist nichts gewonnen, weil die Ausweichmöglichkeiten heute überall und jederzeit gegeben sind und die Menschen genau wissen mittlerweile, wohin man ausweicht. Es ist auch, ich glaube, eine hehre Romantik, einfach zu glauben, dass sich jetzt irgendwann ein globales Regime herausbilden wird, das gleich einer neu formulierten UN dann plötzlich versucht, soziale Medien zu reglementieren. Heute können Sie über einen VPN-Kanal, wenn Sie es irgendwo reglementiert haben und es ist, nehmen wir das Beispiel in Deutschland würde es noch mehr reglementiert, als es ja in Teilen schon reglementiert ist, darf man ja nicht vergessen. Es gibt ja durchaus eine Einschränkung auf europäischer Ebene, auch auf deutscher Ebene, also was Hate Speech, solche Sachen anbelangt. Vieles hat ja auch sein Gutes, ohne Frage. Nur wenn das überhandnimmt, sind wir an einem Punkt angelangt, wo Menschen mit einem Handgriff, und zwar da muss man kein Hexenmeister im Digitalwesen sein, mit einem Handgriff eben sagen können: Ah ja gut, das ist vielleicht…, ich nehme jetzt mal ein Beispiel, wo es vielleicht gar nicht der Fall ist, aber in Bolivien weit unreglementierter, also wähle ich mich, wähle ich mich über diese Dinge ein. Ausweichmöglichkeiten werden da immer gegeben sein. Deswegen glaube ich, verschenkt man Kraft, die man sehr viel mehr bräuchte in der Ausbildung digitaler Kompetenz, auch in der Entwicklung der Fähigkeit, nicht jeden Scheiß zu glauben, der einem da um die Ohren fliegt, in der Notwendigkeit des kritischen Denkens. Und das ist etwas, das muss, in meinen Augen muss das Platz greifen, viel mehr bereits in der frühen schulischen Ausbildung, in der Berufsbegleitung. Es ist, trifft alle Generationen. Und wenn man, wenn man sich mal umsieht und auch im unmittelbaren familiären Umfeld und mal schaut, wer hat denn wirklich digitale Kompetenz? Behauptet wird sie viel. Aber digitale Kompetenz beginnt nicht damit, dass man sich jetzt schnell, ähm, einfach mal bei IKEA einen Schrank bestellen kann. Zusammenbauen muss man am Ende wieder meistens selber oder man holt sich jemanden, der es einem macht. All das lässt sich dann übertragen auf andere Dinge. Also: Ich bin da eher liberal, ein bisschen weniger liberal, wenn es darum geht, dass wir einfach einen wahnsinnigen Nachholbedarf haben, was unsere Ausbildung und Schulausbildung anbelangt.

    Rainer Münch: Ich würde dann gerne vom Digitalen zum Analogen kommen. Ich hatte Sie gebeten, einen Wertegegenstand mitzubringen, der für Sie etwas symbolisiert. Ich schaue hier auf ein Buch, etwas kleiner als A5-Format, mit Tauben und einem orangen Hintergrund und einem Konterfei, einem Bild von Ihnen. Es ist Ihr Buch „Drei Sekunden - Notizen aus der Gegenwart". Jetzt haben Sie mir gesagt, es geht hier nicht um eine Buchpromotion, sondern es geht darum, dass dieses Buch und Bücher für Sie eben einfach Ihre Werte auch sehr stark prägen und repräsentieren. Vielleicht können Sie das mal ein bisschen ausführen, was es damit auf sich hat.

    KT zu Guttenberg: Ja, also das Letzte, was ich jetzt machen wollte, ist eigentlich dieses Buch mitzunehmen, um über dieses Buch zu sprechen, weil ich das tatsächlich jetzt nur stellvertretend für den Aspekt Buch gegriffen habe. Als ich die Wohnung verlassen hatte, lag es eben griffbereit gerade da. Ich hätte mir irgendeinen der vielen Romane greifen können, die bei mir zu Hause liegen und die jetzt nicht nur als Dekoration und ungelesen da liegen, um dann irgendwelchen Gästen zu zeigen, dass man vielleicht über eine halbseidene Bildung verfügt. Ich habe mir manchmal Gedanken darüber gemacht: Was würde man versuchen zu retten, wenn es zu Hause brennt? Und an vielen hängt eine nostalgische Erinnerung. Nur ist eine nostalgische Erinnerung etwas, die sich nicht zwingend an dem Gegenstand festmachen muss, sondern ich bin dann irgendwann zu dem Schluss gekommen, wenn es brennt, hoffe ich, dass ich zumindest die Werte mitbringe, die sich bei mir in meinem Kopf manifestiert haben. Alles andere ist endlich. Und es gibt keinen Tag, wo sich nicht neue Werte ergeben und erschaffen ließen. Und eine Erinnerung ist was Wunderbares, aber eine Vergangenheit ist auch unwiederbringlich. Und das kann man im Negativen wie im Positiven betrachten. Und das war ein Erkenntnisgewinn, für den ich eine relativ lange Zeit brauchte und für die ich auch eine Beschäftigung mit nicht nur positiven Aspekten meiner Vergangenheit erst mal überwinden lernen musste. Und ich habe dann eben festgestellt, dass die Unabänderlichkeit des Gewesenen eigentlich das Beste ist, was einem passieren kann, weil man sicher seine Lehren daraus ziehen muss, auch aus seinen Fehlern, die man gemacht hat und all das, aber sich damit nicht belasten muss. Und jetzt kann ein Wertgegenstand aus der Vergangenheit etwas fröhlich Stimmendes sein, aber es kann eben auch etwas Belastendes sein. Aber ich ziehe so unglaublich viel Positives und Fröhliches aus den Dingen, die mir in der Gegenwärtigkeit passieren und den Menschen, die mich umgeben, Momente, die ich erleben darf, dass ich davon einfach Abstand genommen habe. Und jetzt komme ich zu dem Punkt zurück: Warum ein Buch? Weil mich Weniges so innerlich öffnet, insbesondere wenn man im nicht immer nur gleichgängigen Alltag befindlich ist, als die Möglichkeit, in Literatur einzutauchen. Und manchmal verharrt man nach drei Seiten und reflektiert über einen Halbsatz, den man gelesen hat, der dann oftmals gar nichts mehr mit dem Buch zu tun hat. Oder man beginnt, eine Erzählung, eine Geschichte zu begreifen. Und das ist für mich, ist es dann oft eher wirklich Literatur/Belletristik als ein Sachbuch, die ich auch lesen muss, auch gerne lese. Aber es ist dann wirklich Literatur, die bei mir diese Öffnung erlaubt und auch diese zusätzliche Gegenwärtigkeit noch mal verstärkt. Und deswegen ist das für mich, glaube ich, wahrscheinlich, wenn ich etwas Haptisches nehmen sollte und Ihnen mitbringen und sagen: Was ist wirklich ein Wertegegenstand eines Tages oder einer Woche? Dann hätte ich wahrscheinlich zwei Romane dabei, und die sich natürlich in der Woche drauf wieder verändern. Ich werde immer mal wieder gefragt: Welcher Roman hat Ihr Leben verändert? Jeder, auf eine Weise. Und vielleicht jeder auch nicht. Aber er hat mein Leben geprägt. Und es ist ganz lustig: Ich merke ihn mir oft gar nicht, manchmal sogar gar nicht den Verfasser eines Romans. Manchmal geht der Plot bei mir verloren, aber ich weiß, dass er mir in dem Moment geholfen hat oder in dem Moment einfach eine, etwas Besonderes gegeben hat. So, jetzt gibt es manchmal auch absolut beschissene Romane, die legt man dann weg. Aber allein in der Auseinandersetzung mit wie schlecht man etwas geschrieben findet, ohne es aber gleichzeitig nur boshaft zu verurteilen, ist auch schon wieder ein Mehrwert geschaffen. Es ist nicht zwingend vergeudete Zeit. Und deswegen habe ich Ihnen heute einfach stellvertretend ein Buch mitgebracht. Das war zufällig meines, das klingt jetzt furchtbar eitel, sondern das war einfach das, was ich mir gegriffen hatte. Und das ist vielleicht die etwas ungewöhnliche Herangehensweise an diesen Wertgegenstand.

    Rainer Münch: Würden Sie sagen, dieses künstlerische Schaffen und dieses künstlerische Werk mit Buch, mit Filmen, die Sie ja jetzt auch produzieren, ist auch so eine Verwirklichung von einem Lebenstraum für Sie?

    KT zu Guttenberg: Es ist zumindest etwas, was ich wahnsinnig gerne mache. Und ich glaube, in jedem Mensch steckt eine eigene Kreativität. Und ob ich sie genügend abrufe, weiß ich nicht. Das mögen andere beurteilen. Ich weiß nur, dass es mir Freude macht und dass ich mich einfach gerne beispielsweise jeden Samstag hinsetze, um meine Kolumne zu schreiben. So, das dauert manchmal eine Stunde, manchmal kann es auch drei Stunden dauern, manchmal dauert es ein bisschen länger. Man nimmt sich Pause dazwischen und wenn man mit anderen spricht, die auch regelmäßig schreiben, die sagen, irgendwann ist es: um Himmels willen jetzt schon wieder und all das? Und was für eine Belastung! Ich empfinde das gar nicht als Belastung. Es ist wirklich, es hat was Befreiendes. Und deswegen: ja, ein Lebenstraum. Ich habe vorhin über den Unsinn von Vergangenheit gesprochen oder der Beschäftigung mit, der übermäßigen Beschäftigung mit Vergangenheit. Ebenso unsinnig ist es, sich ständig mit Zukunftsträumen zu befassen, weil sie nie so eintreten wird. Und deswegen ist dieser Begriff Lebenstraum für mich nicht wirklich etwas Zutreffendes, sondern eher etwas, wo ich sage: Das kann ich in dem Augenblick, wo ich das tue, als solches genießen. Ich habe immer gern geschrieben, habe mich lange nicht getraut, es zu veröffentlichen, was ein bisschen seltsam klingt, wenn man sonst die Öffentlichkeit ja nicht wirklich scheut. Als Jugendlicher habe ich schon gerne geschrieben und irgendwann hatte ich mir damals schon gesagt, es wäre schon schön, wenn man etwas mehr daraus machen könnte. Dann hat es halt ein paar Jahre gedauert, bis es dann wirklich so weit war.

    Rainer Münch: Empfinden Sie dieses künstlerische Werk auch nochmal als besondere Verbindung zu Ihrem Vater?

    KT zu Guttenberg: Ja, es ist so ein kleiner innerer Dialog, der immer mal wieder stattfindet mit ihm, obwohl er jetzt nicht mehr auf dieser Erde herumstapft. Aber wir haben uns viel über seine künstlerische Tätigkeit ausgetauscht. Das hat mir damals auch viel Freude bereitet, weil es für mich auch ein Ausbrechen aus meiner Routine war. Und genauso leidenschaftlich hat er über Politik geschimpft und gesprochen. Er hat mich immer ermuntert zu schreiben. Er hat sich das auch gewünscht, weil er kannte die Dinge, die ich unveröffentlicht hatte, habe ich ihm ab und zu mal was rübergeschoben. Und das war etwas, was er versucht hatte, bei mir immer noch ein bisschen mehr herauszufordern. Vielleicht war dann auch gerade deswegen so ein bisschen so eine Blockade oder Abwehr oder Gegenhaltung. Und ich ertappe mich manchmal, dass ich einen, einen jetzt - das ist jetzt kein Gespräch -, aber dass man das Gefühl hat, man tauscht sich noch mal post mortem über dieses Thema aus und das macht mir durchaus Freude.

    Rainer Münch: Vielleicht jetzt zurück sozusagen zur Profanität von Purpose vs. Profit und auch im Politikkontext habe ich eine moralische Frage mitgebracht. Denn dieser Konflikt, dieses Spannungsfeld ist ja auch in der Politik omnipräsent, wenn man daran denkt Steuersenkungen oder Klimafonds, mehr Staatsverschuldung oder mehr Generationenvorsorge. Wie viel Profit-Fokus benötigt Deutschland denn aus Ihrer Sicht für eine stabile Zukunft?

    KT zu Guttenberg: Mehr als manche Deutschland gerne zugestehen wollen und weniger als der eine oder andere Raffgeier es gerne verwirklicht sehen würde. Also das ist jetzt nicht eine typisch politische Antwort, sondern ich glaube, dass sich diese beiden Aspekte nicht ausschließen, sondern dass es eine vernünftige Grundlage geben muss, die wir über Jahrzehnte nicht hatten. Übrigens auch damals während meiner Mitverantwortung. Wo wir es einfach versäumt haben, die notwendigen Investitionen in dieses Land zu machen, um dieses Land so stabil aufzustellen, dass man genau die Dinge, die Sie im zweiten Atemzug genannt haben, dann letztlich sich auch noch besser leisten zu können, als wir es jetzt tun. Es gegeneinander auszuspielen heißt nur, dass man im Grunde die Gräben vertieft in einer Gesellschaft. Und wenn man das jetzt mit dem Begriff Profit verbindet: Profit hat so eine durch und durch negative Konnotation. Ohne Profit ist man aber auch kaum lebensfähig als Individuum und auch nicht als Staat. Als Unternehmen sowieso nicht. Und ich glaube, dass man durchaus dem Begriff Profit eine etwas positivere Konnotation geben muss, weil es letztlich dazu führt, ich gebe jetzt mal ein Beispiel: Wir haben jetzt ein wahnsinniges Paket plötzlich entschieden bekommen von einer Billion Euro. Und das war etwas, was davor brachial von einem Teil abgelehnt wurde, von dem anderen immer gefordert wurde, aber von dem anderen Teil eher so, dass man gesagt hat, damit versucht man alle zu beglücken, Schulden sind uns scheißegal. Andere haben gesagt, Schulden können uns nicht scheißegal sein, weil wir letztlich auch nicht mit voller Wucht gegen die Wand fahren können und es dann den nächsten Generationen einfach nur noch um die Ohren fliegt. Wenn man aber ein Investitionspaket auflegt und von vornherein sagt, es darf nicht profitabel sein, werden Sie eines nicht gewinnen, was man in einer solchen Phase auch braucht, nämlich Leute, die bereit sind, weil sie an ein Land glauben, auch zu investieren in dieses Land. Dann muss der Gedanke dabei, muss gegeben sein, dass das profitabel ist. Und das sind Investitionen, die brauchen wir von außen wie von innen. Und deswegen plädiere ich dafür, nicht sich nur von geifernden Profitdenken leiten zu lassen, aber Profitdenken zuzulassen, weil es am Ende letztlich auch am Profit liegt, ob man genug hat, um Klimaschutzmaßnahmen entsprechend wirksam sich leisten zu können, um entsprechend den Ärmsten auf dieser Welt helfen zu können, um Maßnahmen treffen zu können, dass eben die Fluchtursachen dort bekämpft werden, wo sie stattfinden und, und, und. All das kann man weiterführen. Aber sich alleine auf das Letzte zu verlegen und zu sagen: Das andere ist das komplette Gegenmodell, ist einfach hanebüchener Unsinn. Also diese, dieses Denken miteinander zu verschränken, ist genau das, worüber wir ja vorhin auch schon gesprochen haben, dass man beginnt in der Mitte, sich irgendwo mal zu treffen und zu sagen: Das eine kann ohne das andere nicht existieren. Ansonsten ist man einfach nur in romantischer Träumerei gefangen. Und da läuft man eben Gefahr. Und in der heutigen Verkürzung der Kommunikation - sind wir wieder zurück bei unter anderem den sozialen Medien und all das, weil es die Verkürzung auch immer gab - Schlagworte einfach nur, ideologisiert das Ganze. Müssen diese Züge gegeneinander brummen? Anstatt dass man beginnt, sich nebeneinander in die Lok zu setzen und sich auf einen Zug zu verlegen.

    Rainer Münch: Was ist denn dann die Rolle und auch die Verantwortung der Politik und der Politiker / Politikerinnen, das Ganze zu moderieren, diesen Kompromiss? Ist es am Ende nur ein Aufgreifen der gesellschaftlichen Schwingungen und dessen, was da gerade passiert? Oder kann man da wirklich auch beeinflussen, aufklären, entwickeln? Was ist da Ihre Erfahrung und Ihre Einschätzung?

    KT zu Guttenberg: Na ja Herr Münch, mit Moderation alleine ist es nicht getan. Es reicht auch nicht, nur zu grübeln und zu sagen: Ja, netter Gedanke, ich kenne mich nicht aus. Ich denke mal drüber nach und dann schauen wir mal, was daraus wird. Das soll's ja auch in den letzten Jahren gegeben haben. Das ist zwar zunächst mal sympathisch, wenn ein Politiker zugibt, er weiß von etwas auch mal nichts und es kommt immer nicht nur wie aus der Hüfte geschossen eine schnelle Antwort raus. Aber es ist schon so, dass man natürlich neben der notwendigen Moderation, die es geben muss, auch in der Lage ist, Konzepte zu entwickeln, sich aber auch mal in der Lage zeigt, Konzepte zu korrigieren und nicht auf Teufel komm raus an allem festzuhalten, was man irgendwann mal von sich geblökt hat, sondern dass Dinge dann eben auch diesen formenden Prozess durchlaufen. Und Politik ist eben, geht weit über Moderation hinaus, weil natürlich wird im Zusammenspiel einer Regierung mit einem Parlament in unserer repräsentativen Demokratie, ebenso wie es gestaltet ist, werden Entscheidungen getroffen. Und diese Entscheidungsfähigkeit ist schon auch etwas, was, glaube ich, Menschen erwarten. Sie erwarten schon auch, dass man nicht über Jahre Prozesse zerredet, sondern dass man dann irgendwann auch sagt: Okay, hier sind die Argumente entsprechend relativ deutlich auf dem Tisch. Die mögen konträr sein. Und dann hat man eine gewählte Regierung, die dann eine Entscheidung trifft. Die diese Entscheidung aber so kommunizieren muss, dass die Menschen das Gefühl haben, wir wissen, woran man ist. Woran es oft mangelt, ist, dass man aus der Feigheit vor dem nächsten Shitstorm oder ähnlichen Dingen diese Kommunikation windelweich macht und trotzdem eine harte Entscheidung trifft und dann fühlen sich die Menschen zurecht verarscht. Ich glaube, dass es vielmehr darauf ankommt, wieder sehr deutliche Sprache zu benutzen, ohne zu verletzen dabei, aber einfach deutlich zu machen: Das ist die Marschrichtung, für die wir uns jetzt entschieden haben, und damit Verlässlichkeit zu zeigen. Das Schlimmste, was man an Bild vermitteln kann, ist, dass man in einer Dauerkonsenssuche ist, aber gar nicht zum Konsens kommt. Oder einfach dieses Fähnlein im Winde. Dass man sagt: Na ja, Bevölkerung vergisst schnell. In einem halben Jahr mussten wir uns den Umständen soundso wieder anpassen. Anpassungen wird es immer geben und geben müssen, weil sich die Weltlage so schnell und so dramatisch verändern kann, wie sie sich oft verändert. Aber es wird ja gerne von diesem sogenannten Kompass gesprochen. Und wenn man weiß, bei denen sind wir so dran, ich teile vielleicht diese Meinung nicht, nimmt man einer zunehmend sich gehässiger begegnenden politischen Landschaft, aber auch in Teilen der Gesellschaft, ich glaube schon, einen Teil des Stachels. Und das ist auch etwas, was nicht unmöglich ist. Und wir sind wieder beim Ausgangspunkt: Wie begegnet man sich? Wie geht man miteinander um? Und wie sehr ist man bereit, Gestaltungskraft durch dann auch eine entsprechende nach außen getragene Überzeugung zu vertreten? Und da mangelt es in meinen Augen schon noch an vielen Ecken und Enden, weshalb es so wichtig ist, dass man einfach auch im politischen, unter dem großen politischen Zirkuszelt unabhängige Köpfe mehr und mehr auch zulässt. Da gibt mir die jetzige Konstellation eine gewisse Hoffnung. Wird man sehen, wie sich, wie sich das schüttelt. Aber die Unabhängigkeit erlaubt eben auch, dass man einfach mal vielleicht noch etwas offener ausspricht, das was man denkt. Ich habe immer das Gefühl gehabt, dass das bei den Menschen besser ankommt als dieses windelweich gewaschene oder nur apodiktische Festhalten an Thesen, die sich in dem Moment, wo sie ausgesprochen werden, schon erschöpft haben.

    Rainer Münch: Ich würde Ihnen komplett zustimmen, dass ich auch mehr harte Wahrheiten und das Aussprechen harter Wahrheiten sehr begrüßen würde. Zugleich ist mein Eindruck, dass das politische System das nicht ausreichend unterstützt und dass es Raum gibt für populistische Relativierung, die den Menschen einfache Botschaften vermittelt und die dann eben doch zur Wahl führen. Wie kommt man aus diesem Dilemma wieder heraus?

    KT zu Guttenberg: Ja, ist es das politische System oder es ist eigentlich mittlerweile eine gesellschaftliche Gesamtplattform, auf der man sich befindet? Das ist eben die Frage. Und oftmals ist natürlich das politische System nicht nur ein Spiegel, sondern ein Zerrspiegel einer solchen Gesellschaft. Gerne ein Zerrspiegel. Und je weiter man an die Ränder geht, umso verzerrter. Obwohl die behaupten, dass sie eigentlich der absolut klarste Spiegel sind. Das lässt sich eigentlich relativ leicht entlarven. Ich meine, wir kommen wahrscheinlich am ehesten aus, aus dieser-- das hat was Dilemmatisches -, aber aus dieser selbst gestellten Falle heraus, indem man nicht beginnt, Grabgesänge auf die Demokratie anzustimmen, sondern sich wieder zurückzubesinnen: Was heißt eigentlich Demokratie? Und sich auch selbst als Wähler die Frage zu stellen: Komme ich diesem Grundsatz nach? Was ist denn die Alternative? Will ich einen Autokraten? Will ich einen Diktator, der ja möglicherweise innerhalb von wenigen Minuten eine Entscheidung trifft, manchmal auch komplett ohne Abwägung? Da weiß man manchmal sehr schnell, woran man ist. Aber ich glaube, viele würden das wahrscheinlich als Konsequenz eher ablehnen. Oder muss man sich nicht selbst überprüfen, dass man sagt, Demokratie lebt davon, dass man gewählte Vertreter irgendwohin schickt? Man gibt ihnen einen gewissen Vertrauensvorschuss, der aber oftmals nicht mehr lange … früher hat man noch 100 Tage gegeben. Das ist lange vorbei. All dieses, all diese Riten, die man damals hatte, ist wahrscheinlich auch schwieriger geworden. Aber dass man dann auch akzeptiert, dass Entscheidungen getroffen werden müssen, die in einer Demokratie, insbesondere in einer solchen, die auf Koalition angewiesen ist, zwingend eines Konsenses bedürfen. Und ich komme zurück zu dem, was wir ganz zu Beginn diskutiert haben. Konsens ist nichts zunächst einmal bitter Negatives. Wir begreifen es oftmals aber so, weil wir es als Niederlage empfinden, weil etwas abgeschliffen wird, weil eine andere Position mit hineinkommen muss und Ähnliches. Und je weniger wir bereit sind, als Wählerinnen und Wähler diesen Aspekt zu akzeptieren, desto mehr leidet das Prinzip der Demokratie. Und das hat man eben wie unter dem Brennglas jetzt in den USA gesehen und sieht es dort auch und man sieht es eben bei uns vergleichbar. Ich komme immer wieder zu dem Punkt zurück, dass wir nicht nur den Spiegel mit der Holzwand hinten Richtung Politik halten und sagen: Schaut mal da rein, was ihr da alles für einen wahnsinnigen Unsinn macht. Sondern dass es sich empfiehlt, einen Spiegel zu haben, der auf beiden Seiten eine spiegelnde Fläche hat, der einem immer wieder dann auch zeigt: Vieles davon beginnt bei jedem Einzelnen. Und dann ist oft die Antwort: Ja, aber ich als Einzelner kann ja nichts ausrichten. Unsinn. Jeder kann in seinem kleineren oder größeren Netzwerk sehr viel ausrichten und hat dort Multiplikatorenwirkung. Ja, und manche haben eine Multiplikatorenwirkung, weil sie sich abends in Talkshow setzen, ich auch gelegentlich, wo man sehr viel mehr erreicht. Dann ist die Verantwortung vielleicht noch ein Stück höher in dem Moment. Aber die Verantwortung ist nicht fundamental geringer, wenn man diese Debatte in der Familie führt, im Freundeskreis oder mal mit solchen, mit denen man sich eigentlich gar nicht mehr unterhalten will, weil man ihre Thesen für grauslig hält. Nein, vielleicht sollte man sich gerade mit denen unterhalten und manchmal auch aushalten, dass man auseinandergeht und sagt: „We agreed to disagree." Aber wir haben uns nicht totgeschlagen dabei.

    Rainer Münch: Der doppelte Spiegel ist eine wunderbare Überleitung zur Frage von Max Frisch, die Sie sich ausgesucht haben. Nämlich: Überzeugt Sie Ihre Selbstkritik? Warum sind Sie gerade an der Frage hängen geblieben und was ist Ihre Antwort darauf?

    KT zu Guttenberg: Nun sind die Frisch‘schen Fragen -, nicht die frischen, sondern die Frisch‘schen Fragen -, jede einzelne von denen ist es wert, immer mal wieder gestellt zu bekommen. Und es ist schwer, da sich auf eine zu beschränken. Aber ich fand diesen Satz „Überzeugt Sie Ihre Selbstkritik?" zunächst einmal so, dass ich innehalten musste und man gerne reflexhaft sagen würde: „Na selbstverständlich, ich bin ein ausgesprochen selbstkritischer Mensch, kann über mich lachen, habe offensichtlich auch was Selbstironisches" und, und, und. Mag sein. Aber natürlich gibt es Momente, wo einen Selbstkritik nicht überzeugt. Also Antwort: Nein. Oft mal ja und rückblickend auch ja, wiederum aber immer jetzt auch von der Geisteshaltung getragen, die ich Ihnen vorhin vorgetragen habe, dass der Rückblick nicht überwölbend sein sollte. Und deswegen überzeugt mich, ist überzeugen einfach ein viel zu hart, ein viel zu glorreiches Wort für das, was die menschliche Schwäche am Ende nicht zulässt. Und ich bin eigentlich nie gänzlich überzeugt von dem, was ich mache, sondern glaube, dass es immer wieder noch, es hätte etwas besser gehen können. Da muss man aufpassen, dass man nicht in einen so kranken Perfektionismus abrutscht. Aber ich habe zumindest in den letzten Jahren sehr viel mehr Selbstkritik lernen dürfen und zugelassen, als ich es in meinen jungen Jahren hatte, aber das liegt wahrscheinlich auch in der Natur des Menschen. Und ich blicke sehr vergnügt heute auf manche meiner Fehler. Und ich blicke aber eben auch mit dem Haken dessen, dass ich sagen kann oder mit dem Bewusstsein, dass ich sagen kann, ich habe einen Haken dahinter gemacht und kann sowohl mir verzeihen als auch gerne anderen, die einem Unrecht getan haben oder die manchmal etwas zurecht getan haben, was aber einen verletzt hat. Und da ist es eben ganz wichtig, dass man nicht nur selbstkritisch ist, sondern dass man vielleicht auch darüber hinausgeht, dass man die Fähigkeit hat, sich und anderen zu verzeihen. Und da bin ich sehr angekommen und aber immer wieder unzufrieden mit der eigenen Selbstkritik.

    Rainer Münch: Lieber Herr zu Guttenberg, das würde ich gerne als Schlusswort so stehen lassen. Ich danke Ihnen herzlich, dass Sie zu Gast waren bei Purpose versus Profit. Es hat mir große Freude gemacht.

    KT zu Guttenberg: Mir hat es auch viel Freude gemacht, Herr Münch, und wir haben vergleichsweise wenig über Purpose versus Profit geredet. Aber das kommt davon, wenn Sie sich so einen Gast einladen.

    Rainer Münch: Herzlichen Dank.

    (Das Gespräch wurde aufgezeichnet am 10. Juni 2025)

Autoren