Finanzielle Durststrecke bedroht Vorreiter der Mobilitätswende

München, 8. Dezember 2022Die Wirtschaftskrise bremst auf breiter Front die Finanzierung für Mobilitätsinnovationen. Damit droht der für den Klimaschutz wichtigen Verkehrswende eine riskante Durststrecke. Laut aktuellem „Mobility Start-up Radar“ der Strategieberatung Oliver Wyman konnten Start-ups im Mobilitätssektor in der ersten Jahreshälfte nur noch rund 20 Milliarden US-Dollar einsammeln – nach einem rekordverdächtigen Gesamtjahr 2021, als Investoren 80 Milliarden US-Dollar Wachstumskapital zur Verfügung gestellt hatten. Für vielversprechende Newcomer, deren Börsengang bereits in Sichtweite ist, bleibt der Geldhahn generell offen. Grundsätzlich aber werden Investoren kritischer: Zahlreiche Start-ups müssen die Tragfähigkeit ihrer Konzepte daher schneller unter Beweis stellen, als ihnen lieb ist.

Bei Visionen und Innovationen im Mobilitätssektor saß Investoren 2021 das Geld noch extrem locker. 81,2 Milliarden US-Dollar konnten die Gründer weltweit einsammeln – ein Anstieg um 124 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Nun allerdings stoppt die Rekordjagd abrupt: Nur noch 21,7 Milliarden Dollar flossen nach Erhebungen der Strategieberatung Oliver Wyman von Januar bis Juni 2022 an die Pioniere der neuen Mobilität – auf das Gesamtjahr hochgerechnet würde sich das Volumen des Risikokapitals damit in etwa halbieren. „Der ganz große Hype ist vorbei. Mit Blick auf die wirtschaftlichen und politischen Turbulenzen denken Investoren realistischer und kurzfristiger“, kommentiert Andreas Nienhaus, Mobilitätsexperte und Partner bei Oliver Wyman. „Dieser Trend ist ein empfindlicher Rückschlag für die Mobilitätswende, die aus Klimaschutzsicht dringend geboten ist. Dem Planeten ist es schließlich egal, wie sich Finanzmärkte darstellen. Ideen für klimaschonenderen Verkehr bräuchten mehr Geld denn je – und nicht weniger“, kommentiert Nienhaus.

Der Oliver Wyman-Report zeigt: Gerade Start-ups in der mittleren Finanzierungsphase haben es aktuell schwer, jetzt noch nennenswerte Mittel zu bekommen. Unternehmen mit vielversprechenden und teils bereits erprobten Ideen werden jedoch weiterhin stark von Investoren nachgefragt. „Der Wind hat sich extrem gedreht, Euphorie ist auf breiter Front in Skepsis umgeschlagen“, sagt Nienhaus. 2021 herrschte noch eine Sonderkonjunktur, was sich auch in einer Vielzahl von Mantelgesellschaften („Spacs“) zeigte, die damals ohne konkreten Zweck mit Kapital ausgestattet wurden. „Allein 16 Milliarden Dollar wurden im Mobilitätssektor in solchen Spacs gebunkert, doch teilweise haben sie bis heute kein Investitionsobjekt gefunden“, sagt Nienhaus.

Glücklich, wer nun Reserven hat. „Heute werden weniger Wetten eingegangen“, sagt Nienhaus. „Kein Investor traut mehr Hockeystick-Prognosen, denen zufolge auf eine lange Talsohle angeblich irgendwann ein kometenhafter Aufstieg folgt.“ Der Stimmungsumschwung der Geldgeber bedrohe gerade solche Start-ups, die erst eine verlustreiche Phase zum Kundenaufbau oder für Technikentwicklung und -tests durchstehen müssen. Damit stehen auch solche Innovationen zur Disposition, die auf eine grüne Transformation im Verkehrssektor einzahlen wollen. Insbesondere die Entwicklung von Hardware und Technologien sind sehr kapitalaufwendig – eine schnelle Amortisierung des eingesetzten Kapitels ist nicht zu erwarten.

Hoher Reifegrad zahlt sich aus

Der diesjährige „Oliver Wyman Mobility Start-up Radar“, der traditionell  40 Top-Innovatoren im Mobilitätsmarkt weltweit beleuchtet, zeigt aber auch das Durchhaltevermögen, der reiferen Start-ups mit disruptivem Geschäftsmodell zugutekommt. „Venture Capital-Geber stützen mit ihrem Geld zunächst die Entwicklung bestehender Portfoliounternehmen, bevor sie sich neuen Ideen zuwenden“, sagt Steffen Rilling, Co-Autor der Studie. „Dabei gelten Start-ups mit Potenzial für einen Börsengang in den nächsten Jahren als verhältnismäßig sichere Wette.“

Tendenziell konzentrieren sich die Investitionen so auf weniger Unternehmen. Ein Indiz dafür ist die Größe der Finanzierungsrunden: Wuchs das durchschnittliche Volumen 2021 auf 54 Millionen US-Dollar an, so beträgt es in der ersten Jahreshälfte 2022 trotz aller Bremssignale noch stattliche 46 Millionen. Jede zehnte Finanzierung ist inzwischen eine sogenannte Megarunde, die 100 Millionen US-Dollar oder mehr einbringt. Die drei größten Unternehmen, die 2022 Finanzmittel erhalten haben, schöpfen fast die Hälfte des Geldes ab: Wayve aus London, das sich um autonomes Fahren kümmert, daneben die General-Motors-Tochter Cruise aus Kalifornien sowie der estnische Mikromobilitätsanbieter Bolt, der mit E-Scootern bekannt geworden ist, nun aber weitere Dienste integriert. „Investoren sind immer noch bereit, Geld auszugeben, wenn sie den Mehrwert erkennen. Mit einem soliden Geschäftsmodell können Start-ups auch ihre erwarteten Bewertungen durchsetzen“, sagt Rilling.

Europa überflügelt erstmals Asien

Mit Blick auf die regionale Verteilung der Gelder schaffte Europa zuletzt eine überraschende Aufholjagd: Erstmals konnten die betrachteten europäischen Start-ups mit 4,6 Milliarden US-Dollar Finanzierungsvolumen die asiatischen überflügeln. Diesen flossen im ersten Halbjahr 2022 nur 3,6 Milliarden Dollar zu, während der amerikanische Kontinent mit 13 Milliarden US-Dollar weiter klar den Ton angegeben hat. Experte Rilling hält die Schwäche Asiens eher für eine Momentaufnahme: „In absoluten Geldströmen hält Europa im Augenblick gut gegen, die Finanzierung zeigt sich solide und stabil. Aber die dominierenden Technologiesprünge im Mobilitätssektor stammen tatsächlich aus Amerika und weiterhin aus Asien.“ Als Beispiel könne die chinesische „Super-App“ Grab dienen, die mehrere Angebote auf einer Plattform vereint und allein 2021 mehr als 6,3 Milliarden Dollar einsammeln konnte. „Bei der Betrachtung von Megarunden liegt Asien immer noch vorne“, sagt Rilling.

Deutschland war mit 2,7 Milliarden Dollar Finanzierungsvolumen in Europa der zweitstärkste Ländermarkt hinter Großbritannien (3,9). Vor allem der Ladeinfrastrukturspezialist Ionity, der Auto-Abo-Anbieter Finn und der Flugtaxihersteller Lilium trugen hierzulande mit Finanzierungsrunden im dreistelligen Millionenbereich zum Wachstum bei. Während in Europa im Vorjahr der Großteil der Finanzierungen in Mobilitätslösungen sowie die Digitalisierung des Verkaufs und des Kundendienstes flossen, standen in Asien und Amerika technologisch innovativere Bereiche im Fokus – etwa Autos mit umweltfreundlichem Antrieb oder vernetzte Fahrzeuge.

Insgesamt hat das Connected-Vehicle-Segment den ersten Platz weltweit bei der Finanzierung im ersten Halbjahr mit 7,1 Milliarden Dollar verteidigt. „Connected Vehicle gilt in der Szene zurzeit als das heißeste Thema – zumal es eng mit der Elektromobilität zusammenhängt“, erklärt Nienhaus. Ein Grund dafür sei der steigende Grad der Digitalisierung: „E-Autos liefern im Betrieb teils mehr als doppelt so viele Datenpunkte wie ein klassischer Verbrenner.“ Weil E-Autos mehr Daten erzeugen, treibt dieser Wandel auch Lösungen für eine Vernetzung voran. Der Vernetzungstrend wird zusätzlich beschleunigt durch die Möglichkeiten, Software-Updates per Funkschnittstelle („Over the Air“) anstatt in der Werkstatt einzuspielen. „Eine verstärkte Vernetzung ist insbesondere für die perspektivische Einführung von Robo-Taxis notwendig“, sagt Nienhaus.

 

Über die Analyse

Der „Mobility Start-up Radar“ von Oliver Wyman analysiert jährlich 5.000 Start-ups weltweit in den Innovationssektoren Mobilitätsdienste, „Green Vehicles“, autonomes und vernetztes Fahren sowie Sales und Aftersales.

Über Oliver Wyman

Oliver Wyman ist eine international führende Strategieberatung mit weltweit über 6.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in mehr als 70 Büros in 30 Ländern. Wir verbinden ausgeprägte Branchenexpertise mit hoher Methodenkompetenz bei Digitalisierung, Strategieentwicklung, Risikomanagement, Operations und Transformation. Wir schaffen einen Mehrwert für den Kunden, der seine Investitionen um ein Vielfaches übertrifft. Oliver Wyman ist ein Unternehmen von Marsh McLennan (NYSE: MMC). Unsere Finanzstärke ist die Basis für Stabilität, Wachstum und Innovationskraft. Weitere Informationen finden Sie unter www.oliverwyman.de. Folgen Sie Oliver Wyman auf LinkedIn, Twitter, Facebook und Instagram.

 

Pressekontakt

Oliver Wyman GmbH
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