Bis zu 130 Prozent höhere Energiepreise: Abschied von russischem Gas setzt Haushalte unter Druck

München, 28. Juni 2022 Sanktionen gegen Gas-Lieferungen aus Russland werden für viele Menschen in Deutschland schmerzhafte Einschnitte beim Konsum zur Folge haben. Laut einer Studie der Strategieberatung Oliver Wyman steigen die Preise von Gas und Strom bei einem kurzfristig gedrosselten Import um 80 bis 130 Prozent. Besonders stark betroffen wären finanziell schwächere Haushalte. Die Bundesregierung ist gefordert, die Einbußen zu kompensieren. Unterstützung benötigen auch energieintensive Branchen wie Stahl oder Chemie – Arbeitsplätze und ganze Standorte sind gefährdet. Zugleich gilt es für die Politik, starke Anreize für mehr Energieeffizienz sowie einen beschleunigten Ausbau der erneuerbaren Energie und einer Flüssiggas- und Wasserstoff-Infrastruktur zu setzen.

Sparen wird schwieriger, die Urlaubskasse schrumpft und regelmäßige Ausgaben müssen genau kalkuliert werden: Die von der Bundesregierung forcierte Unabhängigkeit von fossilen Energieträgern aus Russland könnte bei vielen Verbrauchern in Deutschland für finanzielle Engpässe sorgen. Zu diesem Ergebnis kommt die Studie „Energiesouveränität: Der Preis der Unabhängigkeit“ der internationalen Strategieberatung Oliver Wyman. Mehrkosten beim Energieverbrauch von monatlich bis zu 190 Euro erwarten demnach einen Vier-Personen-Haushalt, sollten die Gas-, Öl- und Kohlelieferungen aus Russland nach Deutschland bis Ende 2023 stark zurückgefahren werden. Ein Zwei-Personen-Haushalt müsste monatlich mit bis zu 90 Euro zusätzlichen Ausgaben für Strom und Wärme rechnen. In Folge sinken die Sparquote und Konsumausgaben, der Urlaub fällt kleiner aus oder gleich ganz weg. „Ein rasches Drosseln der Brennstoff-Importe aus Russland wird besonders finanziell schwächer gestellte Haushalte stark belasten. Es besteht die Gefahr, dass sich die Schere zwischen Arm und Reich weiter öffnet“, sagt Dominik Weh, Partner bei Oliver Wyman und zuständig für das Beratungsgeschäft mit der öffentlichen Hand in Deutschland und Europa. Er erwartet zudem einen signifikanten Anstieg der Inflation. „Die Politik muss konsequent handeln und Anreize setzen sowie finanzielle Unterstützung leisten, um die Folgen der angestrebten Unabhängigkeit von russischem Gas abzufedern.“ Ein umfassender und insbesondere beschleunigter Umbau in Richtung der Erneuerbaren und Wasserstoff sei demzufolge nötig.

Im Vergleich zum Jahr 2021 werden die Energiepreise laut Studie zwischen 80 bis 130 Prozent steigen, falls es zu unmittelbaren Importbeschränkungen für fossile Brennstoffe aus Russland kommt. Für einen besonders betroffenen Vier-Personen-Haushalt, der vorrangig Gas nutzt, bedeutet dies eine jährliche Kostensteigerung von bis zu 2.900 Euro für Gas und 800 Euro für Strom. Im Fall eines russischen Lieferstopps, eines sogenannten Angebotsschocks, droht nach Berechnungen der Oliver Wyman-Experten zudem eine erhebliche Versorgungslücke. Deutschland müsste in diesem Szenario zusätzlich zu den höheren Preisen für Strom und Gas auch noch den Gasverbrauch um etwa 25 Prozent drosseln. Geringer fallen die Preissteigerungen aus, wenn die Abhängigkeit von russischen Energieträgern bis 2035 schrittweise verringert würde. „Selbst das wird Haushalte und Unternehmen erheblich belasten“, sagt Jörg Stäglich, Partner und globaler Leiter des Bereichs Energieversorger bei Oliver Wyman: „Eine Beschleunigung von Effizienzmaßnahmen sowie ein systematischer Umbau des deutschen Wärmemarkts ist dringend notwendig, um die Abhängigkeit von fossilen Erzeugungsträgern zu reduzieren“.

Erneuerbare Energien verringern den Preisdruck

Eine Versorgungslücke kann laut der Studie nur in einem Szenario vermieden werden, in dem der Bezug fossiler Brennstoffe aus Russland schrittweise gedrosselt wird. Gaslieferungen aus anderen Staaten sowie Importe von Flüssiggas (LNG) könnten dann die entstehenden Lücken schließen. Wie stark die Steigerung der Energiekosten im Einzelfall ausfällt, hängt davon ab, ob Verbraucher und Unternehmen erneuerbare Energien nutzen. „Der Anstieg der Stromkosten lässt sich durch einen Ausbau von erneuerbaren Energien wie Wind und Photovoltaik reduzieren, während individuelle Haushalte insbesondere durch die Installation von Photovoltaik-Anlagen und Batteriespeichern reagieren können“, sagt Stäglich. „Hohen Gaskosten zum Heizen können Gebäudebesitzer entgegenwirken, indem sie vermehrt strombetriebene Wärmepumpen nutzen, in Energieeffizienz investieren und ihr Konsumverhalten anpassen. Verbraucher, die über eine dezentralisierte Energieversorgung verfügen und beispielsweise ihren Strom selbst erzeugen, verkraften den Abschied von russischem Gas deutlich besser. Sie müssen die Preiserhöhungen nicht in vollem Umfang mitgehen.“ Angesichts des wachsenden Preisdrucks erwartet Energie-Experte Stäglich einen Bewusstseinswandel. „Die Menschen werden zunehmend erkennen, dass sie ihr Verhalten ändern und einen Beitrag leisten müssen, damit Energieunabhängigkeit gelingt.“

Die Bundesregierung könnte verstärkt Anreize für erneuerbare Energieerzeugung bei Haushalten und Unternehmen sowie für den Ausbau der Energieeffizienz schaffen. Gezielte Förderungen für Windenergie, Photovoltaik-Anlagen, Mikro-KWK-Anlagen (Kraft-Wärme-Kopplung), Wärmepumpen sowie Batteriespeicher können den Prozess beschleunigen. „Besonders gilt es, die soziale Gerechtigkeit sicherzustellen. Es ist eine Frage der Lastenteilung“, ergänzt Weh. „Über Zuschüsse wäre es möglich, zusätzliche Energiekosten für Mieter zu kompensieren.“

Preissteigerungen treffen auch Industrie und Energieversorger

Branchen wie die Stahl- oder Chemieindustrie, die Gas in der Produktion benötigen, sind ebenfalls massiv von steigenden Energiepreisen betroffen. Sie müssten durch Umlagen gestützt werden. „Viele Arbeitsplätze sind ansonsten gefährdet und es drohen Standortschließungen oder Verlagerungen ins Ausland“, sagt Weh. Der Anteil russischen Gases am gesamten Gasimport nach Deutschland lag Ende Februar 2022 bei 55 Prozent und ließe sich nach Einschätzung der Oliver Wyman-Berater bis Ende 2022 auf 24 bis 16 Prozent reduzieren. „Der Ersatz von fossilen Brennstoffen durch erneuerbare Energie sorgt auch für eine höhere Widerstandskraft gegen mögliche zukünftige politische Konflikte und könnte Treiber für einen politischen Wandel in nicht-demokratischen Staaten sein“, so Weh.

Auch Energieversorger müssen sich im Fall rascher Sanktionen auf härtere Zeiten einstellen. Der Branche steht eine weitere Konsolidierung bevor, prognostizieren die Studienautoren. Bereits 2021 gab es 39 Insolvenzen in Deutschland, weil Stromanbieter die gestiegenen Kosten angesichts ihrer langfristigen Lieferverpflichtungen nicht verkraftet haben. „Der Druck auf die Versorger wird mit dem Anziehen der Energiepreise weiter steigen“, sagt Stäglich. Die Unternehmen könnten aber mit einer verstärkten Digitalisierung gegenhalten, indem sie ihre Energiebeschaffung optimieren und Preissprüngen durch fokussiertes Risikomanagement entgegenwirken. Die beschleunigte Energiewende biete aber auch Chancen: „Versorger können sich mit innovativen Energieeffizienz-Lösungen bei ihren Kunden profilieren.“  

Eine Management Summary der Studie mit weiteren Ergebnissen finden Sie hier.

Über die Studie

Für die Studie untersuchte Oliver Wyman die Folgen einer Reduzierung des Gas-Imports aus Russland auf die Energiekosten und die Zusammensetzung des Energiemix in Deutschland. Analysiert wurden dazu zwei kurzfristige und zwei langfristige Szenarien: Ein „Angebotsschock“ aufgrund von Sanktionen durch Deutschland bzw. Russland sowie zwei langfristige Szenarien einer schrittweisen Transformation des Energiemix hin zu erneuerbaren Energien. Die jeweiligen Auswirkungen auf die Energiekosten wurden für fünf archetypische Verbrauchseinheiten – Zwei- und Vier-Personen-Haushalt, Bäckerei, Supermarkt, mittelständischer Maschinenbauer – ermittelt, die zusätzlich anhand von drei Verbrauchsprofilen (von gasintensiv bis nachhaltig) klassifiziert wurden. Die Analyse erfolgte durch eine auf dem Merit-Order-Modell basierende Methodik zur Ermittlung von Strompreisen und unter Einbezug öffentlich zugänglicher Angaben zu Rohstoffpreisen, Energieverbrauch, Ausgaben der Haushalte und Kapazitäten zur Stromerzeugung.

 

Pressekontakt

Oliver Wyman GmbH
Daniel Hardt
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Über Oliver Wyman

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