CEO Interview-Serie
Sharen Jester Turney war bis 2016 zehn Jahre lang CEO und Präsidentin von Victoria’s Secret und führte das Unternehmen zu einem Rekordumsatz von nahezu acht Milliarden US-Dollar.
Seitdem berät sie weltweit tätige Modemarken und unterstützt sie in einem zunehmend dynamischen und herausfordernden Umfeld. Ihre Einschätzung der aktuellen Lage in der Branche teilte sie mit Martin Schulte von Oliver Wyman.
Martin: Du bist seit langem eine profunde Kennerin der Modebranche. Welche signifikanten Veränderungen gab es in den vergangenen 10 bis 15 Jahren?
Sharen: Früher drehte sich alles um das Design und den Einkauf. Diese beiden Zutaten entschieden über den Erfolg eines Labels. Die Ausgaben flossen in die Expansion, die Eröffnung neuer Läden und die Erschließung neuer Märkte. In nachgelagerte Bereiche wie die IT und robuste Prozesse wurde lange Zeit wenig investiert. Die Modeindustrie war eine von den Kreativen dominierte Branche. Das ist nun anders. Die Bedeutung von Data Analytics wächst und ergänzt die kreative Arbeit.
Martin: Wie genau sehen diese Veränderungen aus?
Sharen: In der Vergangenheit korrelierten der Modegrad eines Produkts oder einer Marke eng mit dem Endverbraucherpreis. Anbieter wie Inditex haben das verändert und die Mode demokratisiert. Im Ergebnis eignet sich Mode nun weniger, um sich von anderen abzuheben. Handys und andere technische Geräte treten zum Teil an diese Stelle. Zudem haben E-Commerce und Mobile Commerce neue Herausforderungen für alle Beteiligten in der Branche geschaffen.
Martin: Wo genau liegen hier die größten Herausforderungen für die Textilhersteller?
Sharen: Viele Anbieter müssen aufholen. Das Know-how rund um Pricing und Aktionen – und ich spreche hier von integrierten Marketingaktionen und nicht dem gewohnten Abverkauf am Ende des Lebenszyklus – sind in dieser Branche unterentwickelt. Das gilt auch für das klassische Category Management. Die Digitalisierung schafft nun eine Reihe von Möglichkeiten, diese Themen anzugehen. Fairerweise muss man festhalten, dass das Geschäft mit Mode eine besondere Herausforderung birgt: Eine ständig wachsende Zahl immer kürzerer Modezyklen. Die Kontinuität bei den Produkten ist gering, was es schwieriger macht, Entwicklungen über die Zeit zu analysieren. Dessen ungeachtet sitzen die meisten Textilhändler wie auch vertikalisierte Hersteller auf einem wahren Schatz ungenutzter Daten.
Dessen ungeachtet sitzen die meisten Textilhändler wie auch vertikalisierte Hersteller auf einem wahren Schatz ungenutzter Daten.
Martin: Gibt es Beispiele dafür?
Sharen: Natürlich. Unsere Branche muss lernen, mit den gerade skizzierten, besonderen Herausforderungen umzugehen. Eine Möglichkeit besteht darin, Produkte mit ähnlichen Eigenschaften über ihre Attribute zusammenzufassen und so über mehrere Modezyklen hinweg Muster zu erkennen. Ein anderes Beispiel ist das Tracking mit RFID-Tags über die gesamte Lieferkette hinweg. So lassen sich Lagerbestände und Abverkäufe optimieren.
Martin: Können digitale Tools helfen, mehr über die Kunden und aktuelle Trends zu erfahren, um Bedürfnisse besser zu verstehen und zu planen?
Sharen: Guter Punkt. Insbesondere an der Kundenfront gibt es inzwischen unzählige Tools, die von der Beauty- und Kosmetikbranche schon häufiger als von der Modeindustrie genutzt werden. Innovationen wie Social Listening und das Aufspüren noch schwacher Signale über Messenger-Dienste, soziale Medien und Communities bilden ergiebige Quellen, um mehr über die Kunden zu erfahren. Neben Hinweisen zu Produkttrends weisen zum Beispiel zahlreiche Signale auf ein starkes Wachstum im Second-Hand-Geschäft mit Mode hin, da sich die Konsumenten mehr Gedanken um Nachhaltigkeit machen.
Darüber hinaus gibt es neue, spielerische Ansätze, um Trends mit Hilfe digitaler Tools zu erforschen. Das Stichwort heißt Gamification. Es ist nicht schwierig, Kunden dazu zu bringen, mit der App einer Marke zu spielen und sie Trends oder neue Styles beurteilen zu lassen – wenn sie dafür in irgendeiner Form belohnt werden.
Martin: Wie können die CEOs von Bekleidungsunternehmen all diese Herausforderungen meistern?
Sharen: Ich würde anderen CEOs raten, jemanden zu finden, der das Unternehmen durch die erforderlichen Veränderungen steuert und eine klare digitale Agenda sowie Roadmap entwirft. Zudem würde ich ihnen empfehlen, sich ständig selbst infrage zu stellen. Ich sage gern, dass man sich einmal pro Jahr selbst feuern sollte, um das eigene Verhalten immer neu auf die Probe zu stellen. Wenn sie Wandel im Unternehmen erreichen wollen, müssen sie darüber hinaus einen einfachen, klaren Ton finden, um den Weg den Mitarbeitern zu kommunizieren. Nur so kommt eine Transformation in Gang.
Wenn sie Wandel im Unternehmen erreichen wollen, müssen sie einen einfachen, klaren Ton finden, um den Weg den Mitarbeitern zu kommunizieren. Nur so kommt eine Transformation in Gang.
Martin: Und wie entwickelt sich die Branche als Ganzes?
Sharen: Das Auseinanderdriften des Marktes wird sich fortsetzen. Auf der einen Seite stehen starke, global agierende Marken, auf der anderen Seite agile, sehr fähige Nischenmarken. Dazwischen dünnt sich die Anbieterlandschaft zunehmend aus und wir werden ein weiteres Sterben von Marken und Händlern sehen.
Ich vermute, dass das Pendel schon bald in Richtung individueller Nischenmarken schwingen wird – oder auch in Richtung großer Anbieter, die wie am Fließband solche Marken entstehen lassen können. Die Verbraucher sind derzeit zu vielen Filialen, einer zu großen Auswahl und einer zu hohen Penetration derselben Marken weltweit ausgesetzt. Die Einkaufsstraßen und Einkaufszentren sehen rund um den Globus nahezu gleich aus. Die Verbraucher sehnen sich nach Individualität und Abgrenzung. Dies wird zu einer Gegenbewegung führen, wie wir es schon oft im Handel erlebt haben.
Martin: Vielen Dank für das Gespräch.