E-Scooter: Geldgrab oder Hoffnungsträger?
14. April 2020
München, 14. April 2020 – Mit Milliardeninvestitionen sind die Verleiher von Elektro-Tretrollern auch auf den deutschen Markt gestürmt. Weniger als ein Jahr später steht fest: Die großen Hoffnungen haben sich noch nicht erfüllt. Eine Oliver Wyman-Analyse zeigt: Das Nutzerverhalten wurde teils falsch eingeschätzt, zudem war das Installieren der riesigen Flotten ein wirtschaftliches Vabanquespiel. Versetzt Covid-19 den Verleihern jetzt den Todesstoß? Wer die Krise und den ohnehin schon harten Verdrängungswettbewerb überleben will, braucht starke Verbündete und nutzerzentrierte Konzepte. So könnten E-Scooter als Element neuer Mikromobilität doch noch ihren Sinn nachweisen.
Im Frühsommer 2019 waren sie in Deutschlands Großstädten plötzlich allgegenwärtig: Elektro-Tretroller, genannt E-Scooter. Buchstäblich über Nacht brachten Verleihfirmen ihre batteriegetriebenen Flotten in Stellung. Während die ersten Testkunden noch mit Gleichgewicht und Verkehrsregeln kämpften, ging es für die Anbieter ab Tag eins um die Existenz: „Ein harter Verdrängungswettbewerb begann unmittelbar mit dem Startschuss am 15. Juni 2019“, sagt Andreas Nienhaus, Partner der Strategieberatung Oliver Wyman. „Nach einem dreiviertel Jahr zeigt sich heute: Das Geschäftsmodell der Mikromobilität wurde teils massiv überschätzt, zahlreiche Anbieter werden verschwinden. Durch Covid-19 wird der Überlebenskampf noch verschärft. Zahlreiche Anbieter mussten ihre Dienste aufgrund der geringen Nachfrage bereits einstellen.
Hochriskante Geschäftsmodelle
Nienhaus begründet die Skepsis mit Blick auf die hochriskanten Strategien führender Anbieter. Während in der öffentlichen Debatte ein Disput um den Sinn der immer wieder anarchisch genutzten Roller entbrannte und die „Elektrokleinstfahrzeuge-Verordnung“ in der Praxis von Kommunen mit Einschränkungen nachgeschärft wurde, standen die Geschäftsmodelle oft auch wegen zu großem betriebswirtschaftlichem Optimismus überraschend schnell unter Druck: „Die Kosten des laufenden Betriebs sind höher als angenommen. Anbieter müssen alle zwei bis drei Monate die Flotte tauschen“, sagt Nienhaus. Eine Differenzierung der Anbieter sei nur über den Preis und in limitiertem Umfang über die schiere Masse des Angebots möglich. „Die Wettbewerbslogik verlangt, stets die maximale Anzahl von Scootern in der Stadt zu verteilen, um präsenter zu sein als der Wettbewerber – das ist äußerst kapitalintensiv“, ergänzt Nienhaus.
Den Boom erklärt sich Nienhaus auch mit dem Mangel an Alternativen: „Viele Investoren sahen im Jahr 2017 in den E-Scootern die neuen Heilsbringer, als sich der Hype um Carsharing abkühlte und auch klar wurde, dass es mit dem autonomen Fahren viel länger dauern wird als bis 2021, wie einst avisiert“, rekapituliert Nienhaus. Das Modell erschien theoretisch clever: Klein, flexibel und vor Ort emissionsfrei – die Roller sollten Zubringerverkehr zum öffentlichen Nahverkehr (ÖPNV) ermöglichen und aufgrund vergleichsweise niedriger Fixkosten den Verleihern die Kassen füllen. „Tatsächlich ersetzen sie keinen Individualverkehr, sondern Fußgängertum – und die Scooter überfluten die Städte.“ In Wien etwa kämpften zu Spitzenzeiten sieben Anbieter mit rund 7000 E-Rollern um Kunden, verglichen mit weniger als 2000 Carsharing-Fahrzeugen.
Massive Geldspritzen, hohes Tempo
Der Rückzug dürfte teuer werden: „Die Hürden im E-Scooter-Markt wurden erst unterwegs entdeckt. Anbieter lernten ihre Lektionen, als das ganze Investorengeld schon drinsteckte“, sagt Gregory Heckl, Mobilitätsexperte bei Oliver Wyman. Der finanzielle Einsatz und das Tempo sind extrem hoch, wie das Beispiel Bird zeigt: Der kalifornische Anbieter sammelte schon beachtliche 548 Millionen US-Dollar bei Investoren ein. „Bird hat binnen zwei Jahren acht Mal mehr Risikokapital eingeworben als Uber in den ersten beiden Jahren, seine Nutzerzahl viermal so schnell erhöht wie Car2Go und seine Bewertung schon nach einem Jahr auf zwei Milliarden US-Dollar gesteigert“, so Heckl. „Zum Vergleich: Airbnb brauchte drei Jahre, um nur auf die Hälfte zu kommen.“ Auf dem Weg hat Bird bereits den deutschen Wettbewerber Circ geschluckt.
Suche nach multimodalen Konzepten
Wer wird überleben? Die Krise kommt zu einer schwierigen Zeit für die Branche, da die Wintermonate typischerweise schlechter für das Geschäft sind. Im Zusammenhang mit ‚Social Distancing‘ ergeben sich kurzfristig erhebliche Störungen für alle Spieler, die sich nicht nur auf die Einnahmen, sondern auch auf die Finanzierungsrunden auswirken werden, da Investoren Kapital in weniger risikoreichen Sektoren einsetzen. Die am stärksten finanzierten Anbieter sind aktuell laut Oliver Wyman-Analyse die drei Frühstarter des Jahres 2017: Lime (765 Millionen Dollar), Bird (548) und Voi (168) aus Schweden. „Das Konzept wird nach einer starken Konsolidierung tragfähig sein – trotz aller Restriktionen und Imageprobleme“, sagt Nienhaus. „Wer aber das Rennen macht und wer auf der Strecke bleibt, ist schwer absehbar.“
Klar ist für Nienhaus: Ein Erfolgsfaktor liegt darin, E-Scooter besser in multimodale Mobilitätsverbünde zu integrieren, die übersichtlich in nutzerfreundlichen Apps zusammenfließen. Diese Entwicklung zeichnet sich bereits ab: Der Fahrdienstvermittler Uber hat in Lime investiert und fügt E-Scooter zum Leihfahrradgeschäft der Eigenmarke Jump hinzu. Ford hat den E-Scooter-Anbieter Spin erworben. Und auch der Uber-Konkurrent Lyft integriert E-Scooter in sein neues Leihfahrrad-Angebot. Nienhaus: „Die Marktführer der Zukunft werden über smarte Kooperationen gemacht und bedient so das stetig steigende Bedürfnis der Kunden an Flexibilität und Spontanität um von A nach B zu kommen.“
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