Rainer Münch: Willkommen bei Purpose versus Profit. Ich bin Rainer Münch und ich unterhalte mich hier mit meinen Gästen über die Werteorientierung im Geschäftsleben. Mein heutiger Gast ist Christoph Werner von dm-drogerie markt. Zur Aufnahme war ich bei ihm im dm-Dialogikum zu Gast, dem Hauptsitz des Unternehmens in Karlsruhe. Es ist ein echter Wohlfühlort für mehr als 2400 Mitarbeitende mit viel Licht, natürlichen Materialien, großzügigen Räumlichkeiten und einem tollen kulinarischen Angebot. Für mich ist das ein Ausdruck der Wertschätzung gegenüber den Mitarbeitenden, die bei dm so großgeschrieben wird. Mit Christoph Werner spreche ich über sein Menschenbild und seine Führungsphilosophie, über seinen ständigen Weiterentwicklungsanspruch und darüber, wie er aus einer Kindheitsangst eine Leidenschaft gemacht hat. Mich haben seine tiefgreifenden Reflektionen zu Wirtschaft und Führung ebenso beeindruckt wie seine starke Haltung und Entschlossenheit, das Richtige zu tun. Und nun viel Spaß mit der heutigen Folge.
Christoph Werner ist der älteste Sohn von dm-Gründer Götz Werner. Seit 2019 ist er der Vorsitzende der Geschäftsführung bei der größten deutschen Drogeriekette. Zu Beginn seiner Karriere hat er zunächst 15 Jahre lang in der Markenartikelindustrie in den USA und in Frankreich gearbeitet, bevor er schließlich 2010 zu dm kam und 2011 die Leitung des Ressorts Marketing und Beschaffung übernahm. Christoph Werner ist zweifacher Familienvater. Ausgleich zu seinem Job findet er beim Joggen und Schwimmen. Lieber Herr Werner, herzlich willkommen bei Purpose versus Profit.
Christoph Werner: Hallo Herr Münch, schön hier zu sein.
Rainer Münch: Herr Werner, bei Ihnen musste ich mir in der Vorbereitung besonders viel Mühe geben, weil: Vor zwei Jahren ist im Rahmen einer Buchreihe der WirtschaftsWoche ein 160-seitiges Interview mit Ihnen erschienen, wo natürlich ganz viele Fragen schon gestellt wurden. Zum Einstieg vielleicht die Frage an Sie: Hat es Sie denn Überwindung gekostet, der Öffentlichkeit so viele persönliche Einblicke zu geben im Rahmen dieses langen Interviewprozesses?
Christoph Werner: Ach, das war eigentlich nicht der Fall, dass mir das Schwierigkeiten bereitet hat. In diesem langen Interview geht es ja um die Frage, wie bin ich der geworden, der ich zu dem Zeitpunkt des Interviews gewesen bin. Und das ist also eine Entwicklungsgeschichte. Und das betrifft natürlich das gesamte Leben. Also nicht nur, was man jetzt unmittelbar im Beruf erlebt, das ist natürlich auch prägend, aber natürlich auch Kindheit, Jugend, was man sonst für Erfahrungen gemacht hat mit Menschen. Und deswegen ging's dann auch in dem Interview darum und das gehört ja zu mir. Und weil's zu mir gehört, kann ich da auch gut drüber sprechen.
Rainer Münch: Haben Sie denn im Rahmen dieses Interviewprozesses was Neues über sich gelernt? Häufig können ja Fragen da auch viel triggern in einem.
Christoph Werner: Ja, schon richtig. Fragen beleuchten ja immer oder leuchten eine Situation noch mal anders aus. Ich glaub, was ich gemerkt habe, als wir diese langen Gespräche hatten, dass ich großes Glück hatte im Leben. Ich hatte großes Glück, dass es immer Menschen gegeben hat, die sich für mich interessiert haben, die Anteil an meinem Leben genommen haben, mir Feedback gegeben haben, und letzten Endes auch viel Liebe erfahren habe.
Rainer Münch: In dem Interview haben Sie unter anderem auch gesagt, dass man den guten Wolf im Menschen fördern, den bösen aber nicht nähren sollte. Was bedeutet das, dieser Leitsatz für Sie konkret als dm-Chef?
Christoph Werner: Ja, es ist ja eine, ich glaube Parabel nennt man das, glaube ich. Also eine Geschichte eines Großvaters, der diese Geschichte seinem Enkel erzählt auf die Frage "Was ist der Mensch eigentlich?". Und die Geschichte geht ganz abgekürzt so, dass er sagt: Im Menschen kämpfen immer zwei Wölfe. Es ist eben der Wolf, der rücksichtslos ist, der immer auf seinen eigenen Vorteil aus ist. Der schaut, dass er sich immer durchsetzt. Und dann gibt's den Wolf, der eben umsichtig ist, der sich um andere sorgt, der immer versucht, einen Beitrag zu leisten und nicht immer sich zuerst zu nehmen. Und der Enkel fragt dann ja: "Aber wenn diese zwei Wölfe in den Menschen doch kämpfen, Großvater, sag, welcher Wolf gewinnt denn dann?" Und die Antwort von dem Großvater ist dann, dass er sagt: "Ja, der Wolf, den Du nährst." Ja, und ich finde das eine sehr gute, eine gute Beschreibung für das, was den Menschen ausmacht, weil der Mensch ist nach meiner Überzeugung ein offenes Entwicklungswesen. Erkenntnisfähig, aber er ist offen. Also es kann aus einem Menschen im Prinzip alles werden, je nachdem, in welche Verhältnisse er gerät und welche Erkenntnisse er dabei gewinnt. Die Tatsache, dass ich viele Menschen hatte, die sich immer für mich interessiert haben, hat mich natürlich geprägt und das war ein großes Glück im Vergleich jetzt zu Menschen, die nicht das Glück haben, in so eine, in so ein Umfeld geboren zu werden. Beispielsweise ein Umfeld, wo man permanent niedergemacht wird, wo einem immer gezeigt wird, was man nicht kann. Das prägt einen. Und wenn man in einem Umfeld ist, wo Menschen einem immer wieder sagen: "Das ist Dir gut gelungen" oder "Versuch's doch, das wird Dir schon gelingen", also einem permanent Mut machen, dann ist es natürlich wie ein Muskel, der beansprucht wird und dabei wächst. Und jetzt bezogen auf die Menschen und was es für mich bedeutet, wenn ich diese, diesen Einblick habe, ist dass wir uns natürlich immer fragen müssen, wie begegnen wir den Menschen? Weil wir können den guten Wolf und wir können den schlechten Wolf ansprechen. Und wenn ich eben den Menschen wohlwollend gegenübertrete, wenn ich freimütig mich äußere und wenn's mir immer darum geht, dass wir uns an der Wahrheit orientieren, dass wir die Potenziale ansprechen, die positiven Potenziale, dann hat das eine Reaktion in diesen Menschen und dann wächst dieses Positive in den Menschen. Und wenn ich den Menschen eben anders begegne, dann hat das auch seine Wirkung. Und nicht zuletzt als Vater, ich habe ja zwei Kinder, da habe ich das natürlich auch erleben können. Je nachdem, wie man als Eltern, als Vater mit den Kindern umgeht, ob man sie bestärkt oder ob man sie niedermacht, ob man immer zeigt, wer hier der Chef ist zu Hause, grad wenn die Kinder dann älter werden und anfangen zu hinterfragen, das macht einen großen Unterschied. Und ich glaube einfach, sich klarzumachen, dass der Mensch ein ergebnisoffenes, erkenntnisfähiges Entwicklungswesen ist, bedeutet, dass man das dann ernst nimmt. Und meine Erfahrung ist, dass man damit sehr viele positive Überraschungen auch erlebt, wie Menschen wirklich über sich hinauswachsen.
Rainer Münch: Würden Sie denn sagen, dass es in Summe dann bei dm mehr Lob als Kritik gibt, intern?
Christoph Werner: Wir haben uns schon mit dem Menschenbild beschäftigt, ja, einfach um uns das mal klarzumachen, also dass es nicht so diffus ist, und dieses Menschenbild immer wieder zur Diskussion stellen. Und das Menschenbild, welches wir dann mal jetzt formuliert haben, lautet, dass wir sagen: Unser Menschenbild ist eine Liebeserklärung an die Freiheitsfähigkeit im Menschen. Also dass wir den Menschen als ein freiheitsfähiges Wesen einfach mal verstehen. Das heißt jetzt noch nicht, dass sich jeder so äußert, aber dass das Potenzial zumindest in ihm steckt. Und das heißt, dass wir grundsätzlich zunächst mal mit Zutrauen auf die Menschen zugehen. Weil wenn wir mit Zutrauen auf die Menschen zugehen, dann kann sich dieses Positive in den Menschen regen. Und wenn sich das regt, dann entsteht Vertrauen und dann entsteht eine Zusammenarbeit, die natürlich sehr, sehr effizient wird. Weil je mehr ich dem anderen vertraue, umso weniger muss ich kontrollieren, umso weniger muss ich vorgeben, und dann, das ist das Wesen von Kooperation letzten Endes, von einer kooperativen Zusammenarbeit. Also das ist schon etwas, was wir hochhalten. Das heißt nicht, dass es auch enttäuscht wird, dass es auch nicht immer klappt, dass es auch zu Spannungen kommt, dass es auch zu Trennungen kommt. Natürlich, das gehört auch dazu. Aber ich glaube, entscheidend ist, dass am Ende es öfters gelingt, als es misslingt. Und dann wird man eine wirklich erfolgreiche Arbeitsgemeinschaft.
Rainer Münch: Würden Sie sagen, dass es Ihnen leicht fällt zu loben?
Christoph Werner: Na, also mit Lob, das ist ja so eine Sache, ne? Ich fand es sehr eindrücklich, als ich mich während meines Studiums und später dann auch noch mit den Werken von Reinhard K. Sprenger beschäftigt habe, sehr bekannt geworden durch Mythos Motivation, eines seiner ersten Werke. Aber er hat ja dann viele andere Sachen auch noch geschrieben. Und er hat was zum Ausdruck gebracht, was ich, was bei mir irgendwie resoniert hat. Und zwar hat er gesagt: „Lob und Tadel ist das Gleiche, nur mit unterschiedlichen Vorzeichen." Also, das mag erst mal überraschen, weil Tadel sieht man erst mal negativ und Lob doch eigentlich als positiv, deswegen sollte man es tun. Das Grundproblem bei Lob ist, dass ich mich über den anderen stelle, weil ich beurteile, wie das ist, was Sie getan haben. Und zwar gefällt es mir, finde ich es richtig, basierend auf meinen Maßstäben? Das ist natürlich in einer Zusammenarbeit, wo es darum geht, dass man auf Augenhöhe zusammenarbeitet, also sozusagen von Mensch zu Mensch, ist es schwierig. Das heißt jetzt aber nicht, dass es kein Feedback geben darf. Aber ich glaube, was wichtig ist, ist, dass wenn es um Feedback geht, dass wir uns an der Sache orientieren, dass wir uns fragen: Was waren die Ziele, die wir uns gesetzt hatten? Haben wir diese Ziele erreicht? Und dann geht es nicht darum: Gefällt es mir oder nicht als Führungsverantwortlicher beispielsweise. Sondern dann geht's darum: Haben wir diese Ziele erreicht? Warum haben wir sie erreicht? Was war jetzt Ihr Beitrag, um das zu erreichen? Und dann kommt, wenn man so möchte, das Lob nicht von mir, sondern aus dem Gelingen eines Vorhabens, welches wir uns gesetzt haben. Deswegen: Lob als solches ist jetzt nicht das, was ich viel tue. Ich versuche aber immer, den Blick gemeinsam zu richten auf das, was wir erreicht haben oder wie etwas gelungen ist, und das deutlich zu machen. Und ich erlebe, dass viele Menschen daraus dann auch ja die Zuversicht und das Selbstvertrauen ziehen, um weiter mutig sich in die Herausforderung zu begeben.
Rainer Münch: Ich kann das nachvollziehen, dass Sie sagen mit dem Lob, in dem Moment, wo es sich um ein absolutes Urteil handelt und wo ich etwas bewerte und sage, das ist gut oder war gut oder eben nicht so. Ich glaube, es gibt aber noch eine andere Ebene, was so diese persönliche Beziehung auch angeht. Ich kann ja trotzdem sagen, dass ich persönlich sozusagen begeistert war von einem Ergebnis oder dass es mich sehr gefreut hat zu sehen, wie gut Sie jetzt diese Aufgabe gemeistert haben. Würden Sie die Differenzierung mitgehen oder sagen Sie, es ist für Sie immer noch sozusagen in diesem „Lobtopf“ drin?
Christoph Werner: Ja, das ist für mich immer noch in dem Lobtopf. Die Frage ist ja schon mal: Wie kommt es zu den Zielen? Wenn ich diese Ziele willkürlich vorgebe und jetzt der Kollege diese Ziele, sich um diese Ziele bemüht und sie auch erreicht, um mir einen Gefallen zu tun, habe ich schon ein Problem. Ja, aber dann ist es keine intrinsische Motivation mehr bei ihm, sondern letzten Endes extrinsisch, die davon abhängt, wie meine Reaktion darauf ist. Das halte ich allerdings... also: kann man alles machen, nicht? Ich möchte es auch nicht kritisieren. Nur für mich ist das nicht der Weg, der nachhaltig zum Erfolg führt. Ich glaube, die Riesenaufgabenstellung und letzten Endes auch das Erfolgsrezept ist, wenn Menschen aus intrinsischer Motivation heraus die Dinge tun. Und die intrinsische Motivation, nach meiner Überzeugung, kommt aus dem Sinn, den man erkennt in dem, was man tut. Und das darf nicht von mir abhängen, als Führungskraft.
Rainer Münch: Glauben Sie, dass das ein Konzept ist, wo sozusagen jeder Mitarbeitende dafür gewonnen werden kann? Weil es gibt natürlich ganz viele, die sich sehr an diesem Feedback orientieren und die eben auch sich danach ausrichten. Und es ist ja schon auch eine Anstrengung und ein Energieeinsatz, sich davon zu lösen und eben auf diesen intrinsischen Blick zu kommen und auf die Perspektive. Also glauben Sie, das kann sich jeder erschließen oder sind die einen dafür gemacht und die anderen nicht?
Christoph Werner: Also prinzipiell glaube ich, dass jeder sich das erschließen kann. Da sind wir wieder bei der Geschichte von den zwei Wölfen, die in den Menschen kämpfen. Die Frage ist jetzt: Kann es zum Ausdruck kommen? Und schaffe ich die Rahmenbedingungen, dass gute Bedingungen bestehen, damit das zum Ausdruck kommen kann? Je mehr ich natürlich mit Bonifizierungs- und Incentivierungsprogrammen arbeite, umso mehr arbeite ich mit extrinsischer Motivation. Und da gerät der eigentliche Sinn eher in den Hintergrund. Und da sieht man auch wieder: Auch darauf reagieren Menschen natürlich, sonst würden ja nicht so viele Incentivierungs- und Bonifizierungssysteme in der Vergütung in Unternehmen bestehen, weil sie funktionieren. Aber sie sprechen halt was anderes im Menschen an. Und wir müssen uns halt fragen und ich muss mich fragen als Mensch: Möchte ich das? Kann ich das verantworten? Wenn ich zurückblicke und sage: „Was waren die Spuren, die Du hinterlassen hast?“
Rainer Münch: Aufbauend auf dieser Reflektion. Sie betonen an vielen Stellen in dem Interview auch die Bedeutung der persönlichen Weiterentwicklung und dem Auseinandersetzen, so nennen Sie es, mit dem Was einer Aufgabe und nicht immer mit dem Wie einer Aufgabe. Wie funktioniert persönliche Weiterentwicklung für Sie persönlich heute? Also wenn ich den Christoph Werner, der jetzt vor mir sitzt, vergleiche mit dem vor einem Jahr: Was hat sich verändert? Was ist momentan Ihre Weiterentwicklung, die stattfindet?
Christoph Werner: Ja, also Weiterentwicklung findet zum Glück ja immer statt. Ich glaube, wichtig ist, dass man sich immer wieder aus der Komfortzone heraus begibt in die Lernzone. Und das muss ich auch tun. Das möchte ich auch tun. Also mal ganz praktisch. So ein Podcast wie heute. Ich weiß jetzt ja nicht, mit welchen Fragen Sie um die Ecke kommen und da begebe ich mich ja auch in eine Lernzone. Wichtig ist, sich immer wieder in Zusammenhänge begeben, wo man was lernen kann, sich zurückzunehmen, nicht zu glauben, dass man überall eine Antwort gleich geben müsste. Erstmal zuhören, erstmal verstehen, gemeinsam bewegen, zu neuen Erkenntnissen kommen, ausprobieren, beobachten, integrieren. Also das sind so die Dinge, die wichtig sind. Und da jetzt als Vorsitzender der Geschäftsführung von dm-drogerie markt – wir sind ja ein sehr großes Unternehmen mittlerweile geworden – muss ich natürlich gucken, in welche Bereiche ich mich begebe, damit mir das gelingt. Auch sehr, sehr viel das Zeitgeschehen verfolgen, Bücher lesen, um mal andere Sichtweisen zu hören. Ich glaube, das sind so die Dinge, die wichtig sind. Und dann ist natürlich immer die Frage „Wo setze ich jetzt meinen Schwerpunkt in dem, was ich tue?“ Das ist ja wieder eine Folge der Erkenntnisse, die ich hatte. Und wenn wir jetzt gucken im Moment, etwas, was mich persönlich sehr bewegt, ist die Situation, in der wir als Gesellschaft im Moment sind. Es ist ja sehr, sehr viel in Bewegung gekommen, nicht zuletzt durch die Veränderungen in der Präsidentschaft der Vereinigten Staaten von Amerika. Aber auch die Tatsache, dass wir wieder einen Krieg in Europa haben, dass wir erleben, dass die Gesellschaft wesentlich weniger geeint ist und dass Risse durch Familien gehen, durch Gruppen, die davor sich gut verstanden haben. Das ist schon ein Phänomen, was ich in meiner Jugend so noch nicht erlebt habe. Da waren die Dinge doch wesentlich einfacher. Auch, dass ein gewisses, eine gewisse Offenheit - möchte ich mal vorsichtig sagen -, für autoritäre Ansätze wieder gesellschaftsfähig geworden ist und viele Menschen sich auch dafür aussprechen, obwohl doch eigentlich die liberale Demokratie eine echte Errungenschaft ist. Und das bewegt mich insofern als, ich bin jetzt 52 Jahre alt, also ich bin jetzt auch schon eine Weile im Berufsleben tätig, und diese Dinge sind geschehen, während ich ja mitgestalten konnte. Natürlich bin ich jetzt kein Politiker. Also ich bin da auch begrenzt in meinem Wirkungskreis. Aber ich glaube, die Frage müssen wir uns schon stellen als diejenigen, die dieses Alter haben, wo sie sozusagen mitten im Leben stehen, schon mit Erfahrungen, aber auch noch mit Kraft, die Dinge zu machen. Inwiefern können wir uns einsetzen dafür, dass dieses Land ein Land bleibt, in welchem gute Voraussetzungen sind, damit die Menschen ihr Lebensglück finden können? Und das gelingt nur, wenn wir uns dafür einsetzen. Und das ist eine Frage, die mich im Moment beschäftigt. Ich kriege auch viele Fragen dazu gestellt. Beispielsweise „Wie positioniert sich dm-drogerie markt zur Frage von radikalen Parteien in Deutschland? Sollen wir uns dazu äußern? Sollen wir uns dazu nicht äußern?“ Mit schwierigen Fragen, die gestellt werden. Sollen wir uns dazu äußern? So ein Thema wie Karenztage beispielsweise. Das ging jetzt gerade so ein bisschen durch die Medien, weil ich was dazu gesagt habe. Das sind dann Momente, wo man sich fragen muss: Ja, möchte ich was dazu sagen oder nicht? Auch mit dem Risiko, missverstanden zu werden, dass das polarisierend aufgegriffen werden kann? Das sind so Fragen, die mich im Moment beschäftigen. Und auch da geht es wieder darum, einfach mal gucken, mal ausprobieren, genau hinschauen. Viele Menschen fragen, wie sie es erleben, nicht gleich sich selbst eine Meinung bilden und damit dann mit dem Kopf durch die Wand zu gehen. Also das ist eine Situation, die zum Zeitpunkt, als dieses Interview geführt wurde, noch nicht für mich so im Vordergrund stand.
Rainer Münch: An die politische Situation musste ich ja auch denken bei Ihrer Parabel, oder die Sie zitiert haben mit dem guten und dem bösen Wolf, wo es ja den Anschein hat, dass eben die Politik oder viele Politiker da momentan vor allem den bösen Wolf auch ansprechen, gerade wenn es dann radikaler wird und diesen Rechtsruck und den Populismus, wenn man das reflektiert. Würden Sie es auch so sehen? Ist das sozusagen einfach eine andere Ansprache, die da eben diesen bösen Wolf auch anspricht und mobilisiert? Und wie kommt man dann an den guten Wolf wieder ran? Was können denn Unternehmen noch mehr machen?
Christoph Werner: Ja, also man sieht halt, es funktioniert und es funktioniert auch schnell. Also das Instinkthafte im Menschen ist halt auch da und das kann ich ansprechen und das wird auch angesprochen von manchen Politikern, einfach weil es halt schnell wirkt. Und allerdings führt es mittel- bis langfristig, meine ich, eher ins Verderben als ins Heil. Und die Herausforderung ist halt, dass dieser andere Bereich, der muss halt wachsen, der ist nicht immer sofort da. Das hat viel mit dem schöpferischen Potenzial in Menschen zu tun, die sich halt, dass sich halt auch erst entwickelt mit der Zeit. Deswegen ist es ja so wichtig, dass wir gerade in jungen Jahren Zuneigung und Zutrauen erfahren. Wenn wir das nicht bekommen, dann... wird dieses Potenzial, was in uns ist, einfach nicht genügend entwickelt und das andere ist dann da und dann wird es mehr angesprochen. Und dann sind wir im Prinzip auf dieser Bahn, die uns letzten Endes, würde ich mal sagen, weniger menschlich und tierischer macht. Ja, und ich glaube, jetzt gerade für Menschen in der Politik ist es halt so wichtig, dass sie sich schon überlegen, für was wollen sie stehen, was ist ihnen wichtig? Und sich nicht nur fragen, was kommt gerade an? Und das ist im Unternehmen letzten Endes aber auch so. Die Frage: Was wollen wir verkaufen? Wie wollen wir die Arbeitsorganisation, die Arbeitsgemeinschaft strukturieren? Welche Unternehmenskultur wollen wir kultivieren? Das ist letzten Endes eine Frage von Werten, die wir haben. Und da haben wir ja einen unheimlichen Schatz, glaube ich, gerade in Deutschland auch, auf den wir zurückgreifen können, wenn wir mal an die großen Philosophen auch denken, an Goethe und Schiller und was es da so alles gegeben hat. Also da können wir uns schon dran orientieren. Aber dafür muss ich halt reflektieren und darf nicht nur aus der Reaktion, nicht nur aus dem Instinkthaften heraus handeln.
Rainer Münch: Es gibt ja einige Initiativen, wo dm auch teilweise beteiligt ist aus der Wirtschaft heraus. Würden Sie sich in Summe aus der Wirtschaft ganzheitlich dann noch eine stärkere, lautere Stimme wünschen? Oder sagen Sie, man kann auch nur bedingt viel tun und da passiert schon viel?
Christoph Werner: Auch ein langer Weg, besteht aus vielen kleinen Schritten. Deswegen glaube ich, ist es wichtig, dass da jeder seinen Beitrag leistet. Und was die Wirtschaft anbelangt, glaube ich, müssen wir nochmal ein bisschen differenzieren. Es macht schon einen Unterschied, ob das jetzt ein Familienunternehmen ist, wo vielleicht auch Gesellschafter als Geschäftsführer tätig sind, oder ob das jetzt ein börsennotiertes Unternehmen ist mit angestellten Managern und einer Gesellschafterstruktur jetzt durch Aktionäre, die relativ atomistisch ist und wo man die vielleicht so gar nicht kennt und wo es da nur Repräsentanten gibt. Ich glaube, bei Letzterem ist es schwierig, weil natürlich da oft das Unternehmen auch als sekundäres Interesse gesehen wird, nicht als primäres. Wo sozusagen: man investiert rein und dann verkauft man wieder, die Beteiligung. Bei Familienunternehmen ist das ja anders. Familienunternehmen: Letzten Endes ist eigentlich die Idee, dass die Gesellschafter dahinter nicht das Interesse haben, den Wert zu steigern, um das dann zu verkaufen, um dann mit den Erträgen wieder woanders investieren zu können. Sondern die Idee bei Familienunternehmen ist ja, dass es an die nächste Generation von Gesellschaftern in einem besseren Zustand übergeben werden soll, als man es selbst bekommen hat. Und damit ist da also eine Langfristigkeit dabei, die dann auch einen in die Lage versetzt, nicht nur den kurzfristigen Erfolg im Blick zu haben, den man halt während seines Vorstandsvertrages erreichen möchte, um dann auch die Incentivierung mitnehmen zu können. Sondern da geht es wirklich darum sich zu fragen, was wird denn langfristig erfolgreich sein? Und das ist Relevanz bei den Menschen. Und zwar eine nachhaltige Relevanz, nicht nur die kurzfristige. Also Kunden wirklich zufrieden stellen, damit sie eben keine Kaufreue haben, damit sie wiederkommen, weil sie sagen, da bin ich am besten bedient worden. Das hat mir am besten geholfen, das zu erreichen, was mir persönlich wichtig ist. Und insofern glaube ich, dass man, wenn man jetzt in einer Rolle ist wie ich in einem Familienunternehmen, da gibt es viele Menschen, die in dieser Rolle sind, ist es schon wichtig, dass wir uns auch gesellschaftlich einbringen. Auch viele Politiker sagen das, wenn man mit ihnen spricht. Die kritisieren oft, zu Recht denke ich, dass sie sagen: "Ihr Unternehmer. In Gesprächen, die wir dann führen, sagt Ihr, was alles gemacht werden soll und dass wir mutiger sein müssten. Und dass wir gewisse Dinge verändern müssen in diesem Land." Und wenn dann Politiker sich dann auch tatsächlich da sozusagen in den Sturm begeben und Dinge fordern und dann natürlich der Wind ihnen ins Gesicht bläst und sie dann schauen, wo die Unternehmer sind, dann sind die oft nicht mehr da. Deswegen glaube ich, dass es schon wichtig ist, dass wir uns zu Themen äußern. Allerdings immer mit Bedacht und auch immer mit Respekt. Und vor allem: Ich glaube, wir sollten weniger übereinander schimpfen, sondern sollten mehr anerkennen, wie die einzelnen Menschen in ihren Rollen, wenn ich jetzt gerade mal an die Menschen, die Verantwortung tragen in der Politik denke, dass die natürlich andere Rahmenbedingungen haben, und dann einfach überlegen: "Mensch, wie können wir denn auch ins Gespräch kommen, damit die richtigen Dinge in diesem Land passieren?" Und mit richtigen Dingen meine ich jetzt nicht, um die Dinge zu optimieren, damit ich als Unternehmen so erfolgreich wie möglich sein kann zulasten anderer, sondern dass die Strukturen so sind, dass immer das Bessere sich durchsetzen kann und wir dadurch immer bessere Voraussetzungen für eine Gesellschaft haben. Also die Idee der sozialen Marktwirtschaft, glaube ich persönlich, ist etwas, wo wir viel mehr darüber sprechen müssten. Ich erlebe in meinen Gesprächen, dass da sehr, sehr wenig Wissen bei den Menschen ist. Einfach weil es in den Schulen zu wenig besprochen wird, weil auch Unternehmer in der Regel in den Krimis als die Stinkstiefel dargestellt werden, als die Bösewichte. Da ist ein gewisses Misstrauen glaube ich, gerade auch Unternehmern gegenüber. Und das können wir am besten dadurch verändern, indem wir viel mehr darüber sprechen, was die Dinge sind, die uns wirklich bewegen und welchen Beitrag wir leisten wollen und was wir glauben, worauf es ankommt.
Rainer Münch: Im politischen Kontext merkt man das ja eigentlich indirekt, indem jetzt wieder allen klar wird, wie bedeutsam die Wirtschaft ist und die Wirtschaftsleistung und dass das sozusagen der Motor ist für vieles anderes, was dann eben auch gut ist. Und es geht ja in die gleiche Richtung, das anzuerkennen und dann eben mit der sozialen Marktwirtschaft so auszuprägen, dass eben auch alle teilhaben.
Christoph Werner: Richtig, genau. Das war ja der große Wurf damals. Und wichtig ist halt, dass wir wirklich schauen, dass diese Idee, dass gute Ideen sich durchsetzen können, dass Wege gefunden werden können, indem eben auf die Initiative der Menschen gesetzt wird, und wir eben nicht nach Kommandowirtschaft vorgehen, nach Planwirtschaft vorgehen, dass wir überlegen, also der Staat kann alles schon vorausgeben und dann wird es so funktionieren. Das ist ja alles schon ausprobiert worden und hat sich ja nicht bewährt. Also dass wir nicht darein zurückfallen. Und ich glaube, wir können, wir konnten beobachten, jetzt ist ja, kommt ja eine neue Koalition, jetzt wird man mal sehen, was dann tatsächlich passiert. Ist im Moment noch offen, da sind jetzt viele Willensbekundungen, aber es muss ja noch gemacht werden. Aber in der Vergangenheit, in der Diskussion konnte man schon sehen, dass die Tendenz eigentlich eher dahin ging, dass wir uns als Gesellschaft zunehmend schwer getan haben mit Unsicherheit. Und dass wir diese Scheinsicherheit, in dem der Staat vorgibt, wie die Dinge zu laufen haben, dass wir das attraktiver fanden, auch wenn es zu nachweislich nicht so guten Ergebnissen führt, statt dass wir sagen, wir begeben uns in das Feld der Unsicherheit, welches nun mal Marktwirtschaft ist, auch soziale Marktwirtschaft, und sagen: Jetzt gucken wir mal, wie der Weg gefunden werden kann, um dann zu einem besseren Ergebnis zu kommen. Also da gilt halt so eine Gesetzmäßigkeit, ist ein bisschen arg verkürzt, aber ich finde es bringt es trotzdem auf den auf den Punkt, also: leichte Entscheidung, schweres Leben; schwere Entscheidung, leichtes Leben.
Rainer Münch: Das ist fast ein bisschen philosophisch. Sie haben ja eben auch die Philosophen, die deutschen Philosophen angesprochen. Es gibt noch jemand anderen, den Sie regelmäßig als Vorbild nennen. Das ist Viktor Frankl, ein sehr renommierter, bekannter, 1997 gestorbener österreichischer Neurologe und Psychiater. Sie haben den mal als Vorbild bezeichnet. Was macht ihn zu Ihrem Vorbild?
Christoph Werner: Viktor Frankl! Ja, das ist so ein Geheimtipp im deutschsprachigen Raum. Interessanterweise in Amerika ist der wesentlich bekannter, aber in Deutschland, im deutschsprachigen Raum ist er nicht so sehr bekannt. Aber er ist jemand, der den Menschen beschrieben hat als ein Wesen auf der Suche nach dem Sinn. Also Sinn ist für ihn ein ganz wesentlicher Gesichtspunkt des menschlichen Lebens und des menschlichen Daseins. Und er hat natürlich eine unglaubliche Glaubwürdigkeit, weil er ein Häftling in KZs war im Dritten Reich, er ist jüdischer Abstammung und deswegen ist er damals ins KZ deportiert worden, hat seine gesamte Familie verloren, ist in der Situation gewesen, wo er selbst natürlich in existenzieller Bedrohung war und erlebt hat, wie andere Menschen in Bedrohung waren, also in seinem Umfeld, die da auch waren, viele Menschen den Suizid gewählt haben als Lagerinsassen, und sich deswegen intensiv mit der Frage von Sinn beschäftigt hat. Und wenn so jemand, und er war schon ausgebildeter Psychiater, als er da interniert worden ist, hat er dann dieses Buch geschrieben, "Trotzdem Ja zum Leben sagen“, wo er eben beschreibt, wie da sein Leben war bis dahin und die Beobachtung, die er im Konzentrationslager gemacht hat. Und er hat so eine ganz interessante Blickwendung, die er immer wieder macht. Und zwar, dass er beispielsweise sagt: „Frage nicht, was Du vom Leben willst, sondern frage Dich, was das Leben von Dir möchte.“ Und da sind wir natürlich sehr, sehr schnell bei der Frage des Sinns. Also Kennedy hat es dann später auch gesagt: Frage nicht, was Dein Land für Dich tun kann, sondern frage, was Du für Dein Land tun kannst. Das ist allerdings dann etwas profaner, finde ich. Wie Viktor Frankl das auf den Punkt bringt, ist noch mal wesentlich grundsätzlicher. Und er beschreibt es auch, man kann auf YouTube einige Interviews mit ihm sehen, in nicht so ganz guter Qualität, weil's schon lange her ist, aber trotzdem ein paar Interviews. Das lohnt sich wirklich mal zu schauen, wo er auch aus seiner Praxis erzählt, wie Menschen, die in existenziellen Krisen waren und zu ihm gekommen sind und ihm Fragen gestellt hat, wie er durch eine Blickwendung, die er einfach in den Gesprächen mit ihnen hatte, dann ihnen ermöglicht hat, neu auf die Situation zu schauen.
Rainer Münch: Ich finde ihn auch sehr beeindruckend in der Tat. Und wie Sie sagen, dieses Buch mit diesem Titel über diese Zeit, das allein ist ja schon eine unglaublich starke Aussage, was die Haltung angeht. Gibt's denn Momente im Alltag, wo Sie, wo er Ihnen in den Sinn kommt, wo Sie irgendwie an ihn denken, wo er Sie dann inspiriert?
Christoph Werner: Ja, ja, durchaus. Also: Weil er sagt zum Beispiel auch etwas, was unheimlich lebenspraktisch ist. Also die Frage von Freiheit – ist der Mensch ein freies Wesen? – ist ja eine Frage, die die Philosophie schon lange beschäftigt. Ja, und da geht's ja wirklich hin und her. Da gibt's welche, die treten sehr dafür ein und andere sagen, das ist alles nur erfunden, wir sind alle determiniert und wir können nicht. Da kann man sich jetzt persönlich zu stellen, wie man möchte. Die Frage ist letzten Endes: Was ist lebenspraktisch? So schaue ich darauf. Ich bin ja kein Philosoph, stehe ja mitten im Leben, mit operativer Verantwortung auch. Und was Viktor Frankl unter anderem gesagt hat, und das finde ich da sehr, sehr hilfreich, er sagt, menschliche Freiheit findet statt in dem Moment zwischen Reiz und Reaktion. Ja. Menschliche Freiheit findet statt in dem Moment zwischen Reiz und Reaktion. Und das ist glaube ich etwas, das können wir alle erleben. Ein Reiz, der kommt von außen und unsere Reaktion, die ist ja manchmal reflexhaft. Gerade wenn uns sozusagen die Wut hochkocht oder wir sofort eine Antwort rausschießen. Dieses Reflexhafte, was wir manchmal haben, das Reflexhafte kann sehr wichtig sein im Leben, um schnell reagieren zu können. Aber das ist so ein Überlebensmodus. Wir müssen ja gucken, dass wir in den Lebensmodus kommen, also dass wir sozusagen im Sattel des Pferdes sitzen und die Zügel in der Hand haben und nicht am Schwanz des Pferdes hängen und gezogen werden. Und gerade in solchen Momenten, wenn was ist und man merkt, wie man reflexhaft reagieren möchte, dass man sich dann versucht, ganz bewusst kurz zurückzuhalten, kurz innezuhalten und sagen: halt, nicht gleich reagieren, länger zuhören noch, kurz reflektieren, um dann darauf reagieren zu… also die Reaktion muss natürlich schon kommen, das ist klar, sonst findet die Kommunikation nicht mehr statt. Aber dass man da innehält. Und das ist wirklich der Moment der Freiheit, erlebe ich zumindest so, wo man dann in die Gestaltung kommt und dann wirklich auch einen schöpferischen Beitrag leisten kann. Und deswegen, also: Viktor Frankl glaube ich, sehr, sehr lebenspraktisch für mich unter diesem Gesichtspunkt.
Rainer Münch: Und an der Stelle finde ich die Frage auch ganz wichtig: Wie authentisch ist die Reaktion? Also wie bewusst ist die Reaktion und wie wieder intrinsisch versus extrinsisch ist die, weil natürlich viele Reaktionen auch gelernt sind und irgendwie vorgegeben werden auf einen bestimmten Reiz und da manchmal gar nicht der Raum da ist, um wirklich authentisch zuzulassen, zu fühlen, was der Reiz mit mir macht.
Christoph Werner: Ja, genau. Also in den Reaktionen sind wir oft uns ziemlich ähnlich. Also da sind wir ähnlich gestrickt. Aber individuell wird es eigentlich dadurch, dass ich kurz reflektiere oder länger reflektiere, je nachdem, und dann die Situation wirklich versuche beurteilen zu können und dann eine der Situation angemessene Reaktion darauf folgen kann. Und dann wird es nach meiner Beobachtung individuell und eben nicht mehr, würde ich sagen, gattungsmäßig.
Rainer Münch: Und ich empfinde es auch als sehr rationaler Mensch immer als Herausforderung, da ausreichend Raum für den emotionalen Teil der Reaktion zu lassen. Also es gibt natürlich so Extreme, wie Sie sagen, wo man wirklich wütend wird, aber dann gibt es auch viele Nuancen, wo zumindest ich bei mir feststelle, dass es sofort rational wird und dass eigentlich der Reiz durchaus emotional was triggert. Aber das wird dann sozusagen sofort von den Gedanken überlagert. Und ich glaube, da ist auch eine Chance drin, sozusagen in dieser Freiheit eben auch diese emotionale Komponente noch zuzulassen, mitzunehmen.
Christoph Werner: Ja, ich glaube das, gerade Gefühle sind ja letzten Endes auch Boten. Also man kann mal so drauf schauen, dass man jetzt mal, was Wahrnehmungsorgane anbelangt, jetzt nicht nur auf unsere physischen Sinne schaut, also jetzt hören, schmecken, riechen, sehen und so weiter, sondern dass wir auch unsere Emotionen, die ja jetzt sympathisch oder antipathisch sein können, dass wir das auch wie ein Wahrnehmungsorgan mal versuchen zu verstehen. Also wenn mir jemand sympathisch ist, dann ist das ja so, wie wenn ich jemanden sonstwie wahrnehme und dass ich mich dann frage: Ja, warum reagiere ich eigentlich auf den so? Warum triggert der mich? Oder warum bin ich grundsätzlich gewogen, wenn so jemand mir gegenübertritt? Und dass ich mal versuche darauf zu achten, weil das sagt mir nicht so sehr was über den anderen, sondern was vor allem auch über mich. Wie reagiere ich und warum reagiere ich so? Und muss ich denn so reagieren? Also gerade wenn ich ja verführt werde, dass ich Dinge tue, die ich eigentlich nicht tun möchte. Also gerade so Con Artists arbeiten ja sehr, sehr damit. Wie kommt es denn, dass ich jemandem mit so viel Wohlwollen begegne? Was macht der denn? Oder warum gebe ich anderen Menschen grundsätzlich keine Chance, ja, höre ich nicht mal mehr zu? Das liegt ja nicht nur an dem anderen, sondern vor allem auch an mir, weil andere reagieren darauf anders. Und ich glaube, das ist unheimlich wichtig, um frei zu werden, um auch von den Emotionen letzten Endes nicht gesteuert zu werden. Also Emotionen sind wichtig, aber es ist wichtig, sie dann auch einordnen zu können, um zu einer besseren Reaktion zu kommen.
Rainer Münch: Hundert Prozent. Ich glaube, es sind diese, es ist diese Mehrstufigkeit. Ich glaube, diese Wahrnehmung, Anerkennung der Emotionen, ist wichtig und kommt manchmal auch zu kurz. Dann eine Einordnung und Reflektion und die Verknüpfung mit der rationalen Ebene. Und dann, glaube ich, ist sozusagen das Freiheitsspektrum schon ganz gut.
Christoph Werner: Leicht gesagt, nicht so leicht getan.
Rainer Münch: Ja, total. Es geht ja auch alles so schnell, die ganzen Reize. Sie haben auch einen Wertegegenstand mitgebracht, den ich hier vor uns liegen sehe oder zwischen uns liegen sehe. Ein technisches Gerät, eine Taucheruhr. Es ist ein Edelstahlgehäuse oder zumindest Silber, ein Kunststoff.
Christoph Werner: Schon Edelstahl. Silber ist es nicht.
Rainer Münch: Genau. Ein Kunststoffarmband. Das ist irgendwie so grün, braun, gräulich, also so eine Mischfarbe. Was bedeutet Ihnen dieser Gegenstand? Und für was steht er?
Christoph Werner: Genau. Also für alle Taucher ist es eine Suunto D6i. Schon vor vielen Jahren gekauft, eine Taucheruhr, bisschen klobig, aber ist ja auch zum Tauchen gedacht und nicht zum täglichen Tragen. Hat für mich eine Bedeutung, weil ich lange Zeit viel getaucht bin, also Flaschentauchen. Und das hat etwas damit zu tun, dass ich als Kind, als junger Mensch, echt Angst hatte vor tiefen Gewässern, wenn man nicht runtergucken konnte. Vielleicht deswegen, weil ich einen Großvater hatte, der immer sehr plastisch Dinge erzählt hat und wir hatten keinen Fernseher und er hat dann immer erzählt von irgendwelchen Filmen, die er gesehen hat. Und Weißer Hai beispielsweise ist etwas, das hat mich enorm fasziniert. Aber da hatte ich einfach immer, man weiß ja, solche Ängste, die man einfach hat. Und ich habe dann irgendwann mal mit dem Schnorcheln angefangen und dann bin ich zum Tauchen übergegangen und habe damit dann entdeckt, dass es da eine Welt gibt, die man einfach von außen mit den normalen Mitteln nicht sehen kann. Also ohne Taucherbrille kann ich unter Wasser nicht sehen. Ohne Flaschen kann ich nicht in die Tiefen runtergehen, um dann tatsächlich aus der Nähe auch die Dinge zu betrachten. Und gerade wenn man taucht, kann man plötzlich sehen, wie viel Leben unter Wasser eigentlich ist. Aber dafür muss man natürlich ein bisschen näher rangehen, und was das für eine Wunderwelt ist, und natürlich auch die Möglichkeit, ziemlich nah am Schweben zu sein, wenn man seinen Auftrieb gut kontrollieren kann durch gut eingestellte Weste und durch entsprechende Atemtechnik. Also eine Welt damit plötzlich zu entdecken, die davor bedrohlich wirkte. Und dafür braucht es aber natürlich die entsprechenden technischen Mittel. Also neben der normalen Ausrüstung, die man so als Taucher hat, aber auch die Taucheruhr, die einem eben hilft, nicht in Bereiche zu kommen, die lebensbedrohlich werden, weil man kann ja, also man hört immer wieder von Tauchunfällen und die sind ja wirklich lebensbedrohlich. Aber wenn man eben verstanden hat, wie es geht, und wenn man dann noch die zusätzlichen Instrumente hat, die einem auch anzeigen, in welchem Bereich man gerade ist im Hinblick auf die sogenannten Nullzeiten, die es gibt, oder die Sicherheitsstopps, die man machen muss, dann kann man auch in einer, in einem Bereich, der zunächst mal lebensfeindlich erscheint, durchaus Dinge entdecken, die einem sonst verborgen geblieben wären. Und das hat praktische Auswirkungen auch jetzt mal neben der Tatsache, dass ich also keine Angst mehr vor Tiefen habe, die ich nicht sehen kann. Also das ist damit wirklich bei mir auch verschwunden. Aber es ist ja oft auch so im Leben, dass es Situationen gibt, vor denen hat man einfach einen Heidenrespekt. Man ist in seiner Komfortzone, scheut sich davor, in diese Lernzone zu gehen. Wenn man mal diese Erfahrung gemacht hat, dass etwas, was bedrohlich war, indem man sich ihm gestellt hat und sich damit beschäftigt hat, dann Dimensionen entdeckt hat, die man davor nicht gesehen hat und die das Ganze in ein ganz anderes Licht tauchen, dann war meine Erfahrung, dass ich dadurch sehr, sehr viel Selbstvertrauen gewonnen habe. Und das war ganz praktisch bei mir dann auch, dass ich also in anderen Ländern gelebt habe, in Städte gegangen bin, wo ich dann gearbeitet habe, wo ich keinen Menschen kannte bisher. Also in Frankreich habe ich lange gelebt, in den USA habe ich lange gelebt, war auch schon in Südafrika, und in andere Unternehmen gegangen, andere Unternehmenskulturen. Lauter Dinge, wo man zunächst mal denkt: „Boah, schaffst Du das eigentlich?" Oder wenn man auch eine neue Aufgabe angetragen bekommt, wo man dann sagt: "Mensch, schaffst Du das denn überhaupt? Wird das denn gelingen?" Wenn man diese Erfahrung mal gemacht hat, wie ich beim Tauchen gemacht habe, dann gelingt es da mit einer relativen Gelassenheit dran zu gehen, aber auch mit dem Wissen, dass man sich erstmal darauf einlassen muss. Also nicht gleich hier wie die Axt im Walde sich benehmen, sondern erstmal wirklich eintauchen, wirklich verstehen, verstehen, worauf es ankommt, worauf man vor allem achten muss. Und dann kann so etwas gelingen. Deswegen ist das ein Gegenstand, so profan er auch scheinen mag, der für mich eine große Bedeutung hat.
Rainer Münch: Und diese Taucherfahrung und die Brücke dann zu beruflichen oder persönlichen Situationen: Ist das für Sie etwas Implizites schon immer, wo Sie sagen, Sie haben einfach da eine Erfahrung gemacht und das hat Ihren Blick verändert oder auch manchmal explizit gewesen? Wo Sie sagen: "Also das ist eine schwierige Situation, aber ich bin da in die Tiefe gegangen und habe mich einer neuen Situation gestellt, dann wird das auch gut gehen." Also war das zum Teil auch eine bewusste Reflektion an diese Brücke oder eher verinnerlicht?
Christoph Werner: Ja, also schon. Wenn eine neue Aufgabe dann sich abzeichnet oder man eine Chance erkennt, muss ich ja mich entscheiden: Mache ich es oder mache ich es nicht? Das kann ich wieder reflexhaft machen, klar. Und dann kann ich Glück haben oder nicht. Oder ich kann es versuchen, bewusst zu machen. Und wenn ich's bewusst mache, ist ja die Frage: Ja, woraus ziehe ich denn meine Zuversicht oder auch meine Entscheidung, es zu tun oder nicht zu tun? Und da war einfach dieses Selbstvertrauen und letzten Endes auch eine gewisse Systematik in der Vorgehensweise, wie ich mich vorbereiten kann, um in einem Feld, welches mir bisher unbekannt war, trotzdem gut und schnell zurechtzukommen. Also wieder so ein Muskel. Wenn ich den beanspruche, der wächst. Und indem er wächst, gelingt es mir immer besser. Und ich glaube, das hat mir auch unheimlich geholfen für meine Aufgabe jetzt, weil so ein großes Unternehmen hat natürlich einfach Prozesse und das ist auch wichtig, dass es gut organisiert ist, dass es gut funktioniert. Wir sprechen bei dm immer von der Umsetzungstreue, dass die Dinge auch klappen, wie sie vereinbart sind. Das ist sehr wichtig, ist auch nicht ganz trivial, aber ich würde mal sagen, das ist noch die leichtere der beiden Übungen. Das andere ist ja die Innovation dann wieder, dass wir Dinge verändern müssen, dass wir uns in neue Bereiche wagen müssen, dass wir eingespielte Prozesse auch mal hinterfragen und mal anders angehen sollten. Das hat wieder was mit Mut zu tun, weil es steht ja immer was auf dem Spiel, und zwar, dass Chaos ausbricht und dass das Unternehmen plötzlich in eine Schieflage gerät, die bei der Größe, die wir haben, dann einfach sehr, sehr schwer zu retten ist. Also wir müssen immer gucken, dass wir nie in die Vollbremsung müssen. Und da wird man sagen: "Ja, okay, dann am besten so weiter wie bisher." Aber das ist natürlich kein guter Ratgeber, weil die Welt verändert sich und Unternehmen, die aus dem Markt verschwunden sind, sind nicht alle deswegen verschwunden, weil sie Experimente gemacht haben, die nicht aufgegangen sind, sondern sehr oft, weil sie eben nichts verändert haben und deswegen sich immer weiter von ihren Kunden entfernt haben, weil die Kunden haben sich verändert und dann sind sie in die Irrelevanz abgeglitten und sind dann irgendwann vom Markt verschwunden, Insolvenz oder sind aufgekauft worden oder was auch immer. Also dieser Mut, sich zu sagen, da gibt's ein neues Feld, das beherrschen wir noch nicht, aber dem widmen wir uns jetzt mal, damit beschäftigen wir uns jetzt, ist letzten Endes dann diese Zuversicht, dieses Selbstvertrauen kommt auch aus diesen Erfahrungen und den positiven Erlebnissen, die ich hatte in der Anwendung davon.
Rainer Münch: Wenn wir jetzt nochmal den Mut verknüpfen mit dem Tauchen. Gab's da für Sie, als Sie sich entschieden haben zu tauchen, einen Moment, wo Sie wirklich sagen, da war jetzt irgendwie so der Widerstand maximal und die Überwindung und der Mut, den es gebraucht hat, irgendwie besonders hoch? Oder war das so ein Prozess und Sie haben sich da so herangetastet und irgendwann ist es passiert? Oder gab es den einen Moment, wo Sie gesagt haben: "Okay, jetzt zählt's"?
Christoph Werner: Na ja, also ich habe dann mich ja, musste ja einen Kurs belegen. Man braucht ja einen Tauchschein aus gutem Grund. Das heißt, da gibt es erstmal ein Buch, welches man dann liest. Also ich habe das damals in Frankreich gemacht, in Paris, und jetzt nicht bei einem Urlaub, in irgendeiner Ferienanlage, da wird das manchmal sehr schnell angeboten. Also das war schon damals in Paris eine recht gründliche Ausbildung, die wir da gemacht haben, auch ein super Tauchlehrer gewesen. Und einfach die Tatsache, sich dann mit diesem Thema mal intensiv zu beschäftigen, also nicht nur das Kopfkino ablaufen zu lassen, sondern mal einzutauchen in die Materie, es wirklich zu verstehen: "Was ist denn da und wo sind denn da auch die Gefahren und wie gehst Du damit um? Und wie guckst Du denn, dass Du dann nie in eine Situation kommst, die Dich überfordern kann?" Was ja gerade beim Tauchen so wichtig ist. Also, natürlich muss man wissen, was man macht, jetzt im Notfall. Aber es geht vor allem darum, dass ich mich so verhalte, dass ich nie in eine Situation komme, dass die Wahrscheinlichkeit eines Notfalls hoch wird. Also das einfach zu lernen. Und damit war es auch schon nicht mehr gefährlich. Also wenn ich etwas bewusstseinsmäßig durchdringen kann, dann hört mein Kopfkino auf und die Sache ist nicht mehr gefährlich. Weil was ist gefährlich? Gefährlich ist etwas, nach meiner Erkenntnis, was ich letzten Endes nicht einschätzen kann, was sozusagen über mich hineinbrechen kann. Das ist gefährlich. Auch als Kind, wenn man in den Raum geht und der ist dunkel und da raschelt es. Oder man geht nachts durch den Wald, das ist bedrohlich. Tagsüber durch den Wald zu gehen, ist nicht bedrohlich, obwohl man ähnliche Sachen hört. Natürlich singen die Vögel noch, das ist nachts nicht so sehr der Fall, aber die Geräusche, die man plötzlich sehen kann, die man einordnen kann, sind nicht mehr bedrohlich. Wenn ich sie nur höre und weiß nicht, was es ist und mir dann überlege, was das alles Schlimme sein könnte, dann habe ich Angst davor. Deswegen also diese Sachen verstehen, durchdringen und damit wird es einordenbar und damit ist es nicht mehr bedrohlich, sondern ganz im Gegenteil, ich kann ja was draus machen, ich kann es ja integrieren und dann kann es mir helfen, Dinge zu erleben oder Dinge zu erreichen, die ich sonst nie hätte erreichen können.
Rainer Münch: Ist auch eine schöne Erklärung für die Romantisierung der Vergangenheit, weil da gibt es kein Risiko mehr. Und deswegen…
Christoph Werner: Genau, deswegen malt die Erinnerung mit goldenem Pinsel. Alles bekannt. Alles bekannt, alles einordenbar und man weiß, wohin es geführt hat.
Rainer Münch: Genau. Ja, im Kopf alles klar, eigentlich. Jetzt habe ich noch eine große moralische Frage mitgebracht, wie in allen Episoden. Das ist auf den ersten Blick bei dm gar nicht so einfach, mit dem positiven Menschenbild, mit dem verantwortungsvollen Ressourcenumgang, der sehr präsent ist. Was mir dann aber doch in den Märkten aufgefallen ist, ist natürlich das große und weiter wachsende Angebot an Nahrungsergänzungsmitteln. Und zugleich liest man natürlich immer wieder, dass nicht für alle Produkte eine positive Wirkung erwiesen ist. Und vielleicht ist es gar nicht nötig, das einzunehmen. Zugleich sind die relativ teuer, machen gute Margen. Und da habe ich mich gefragt: Ist das ein Beispiel, wo dm sich dann vielleicht doch ein bisschen für Profit und gegen Purpose entscheidet oder entscheiden muss?
Christoph Werner: Ja, das ist eine gute Frage. Also, wenn ich Sie recht verstehe, gehen Sie davon aus, dass gesichert, es eine gesicherte Erkenntnis ist, ob diese Produkte eine Wirkung haben oder nicht. Das ist der eine Gesichtspunkt, von dem Sie ausgehen, wenn ich es richtig verstehe. Und der andere Gesichtspunkt ist, dass wir etwas anbieten, was die Kunden eigentlich nicht brauchen, weil wir damit Geschäfte machen können. Dazu habe ich folgende Gedanken. Zunächst mal, was Wirkung anbelangt. Wenn wir davon ausgehen, dass nur der jetzige Stand der Wissenschaft darüber Auskunft gibt, ob etwas wirkungsvoll ist oder nicht, dann hätte vor langer Zeit, hätten wir nie den Erkenntnissprung gehabt, dass die Erde doch keine Scheibe ist und wären auf dem Kenntnisstand geblieben, dass die Sonne sich um die Erde dreht. Das war auch mal Stand der Wissenschaft, aber das ist hinterfragt worden und dann ging es weiter. Also auch die Wissenschaft, Erkenntnisse der Wissenschaft, sind unter dem Gesichtspunkt der Falsifizierung auch immer nur so aktuell, wie halt gerade der Kenntnisstand ist, kann sich aber weiterentwickeln. Also heute gibt es Menschen, die sagen, dass Nahrungsergänzungsmittel oder Wissenschaftler, die sagen, das bringt nichts, auch ganze Homöopathie wird hier sehr infrage gestellt. Gleichwohl gibt es aber auch Menschen, die sagen, die glauben wirklich an die Homöopathie. Also, würde man vielleicht sogar noch eins weitergehen: Ich würde sagen, die glauben nicht nur daran, sondern für die ist das evident. Und jetzt kann man sich auf den Standpunkt stellen: Ja, aber wenn die Wissenschaft doch sagt, das bringt nichts, dann sollte man es verbieten. Halte ich gar nichts von, weil dann würden wir im Prinzip die Entwicklung nicht mehr zulassen. Sondern wir müssen auch anerkennen, dass es Menschen gibt, die sagen, das ist sinnvoll. Und wir als Einzelhändler müssen uns ja immer fragen: "Wofür nutzen wir den endlichen Regalplatz?" Damit wir damit zum einen unsere Kunden begeistern können, dass die immer wiederkommen, und zum zweiten uns betriebswirtschaftlich nachhaltig weiterentwickeln können. Also dass wir auch auf die Roherträge kommen, die wir brauchen, um unser Geschäft zu betreiben und weiterzuentwickeln. Und das ist ein sehr, sehr guter Gradmesser. Das heißt die Artikel, die wir reinnehmen, die sich nicht verkaufen, die gehen wieder raus. Die Artikel, die nachgefragt werden, die bleiben drin. Natürlich immer unter den gesetzlichen Rahmenbedingungen, ist klar. Und da können wir beobachten, dass auch diese Kategorie der Nahrungsergänzungsmittel sich gut verkauft. So, wenn wir jetzt kundenorientiert sind, ist es ja nicht unsere Aufgabe, den Kunden zu sagen: "Das ist alles Quatsch, das sollt ihr nicht kaufen", sondern es ist wichtig, dass wir das anbieten, was für die Kunden wichtig ist, und dass wir schauen, dass die Information, die wir zur Verfügung stellen, was gerade im Nahrungsergänzungsbereich relativ limitiert ist, über die Wirkversprechen, die man da machen kann, dass wir also die Kunden so gut wie möglich informieren und dann kann der Kunde entscheiden, ob er es sich kaufen möchte oder nicht. Und die Tatsache, dass die Preise, die sozusagen aufgerufen sind, mit denen ausgezeichnet ist, dass die von den Kunden akzeptiert werden, bedeutet, dass das Wirkversprechen, welches in den Köpfen der Kunden da ist für diese Produkte, höher ist als das Geld, welches sie in der Tasche haben. Sonst würden sie das Geld ja nicht ausgeben dafür, dass sie ein Produkt bekommen. Also deswegen würde ich sagen, das Sortiment, was wir dort haben, ist genauso kundenorientiert wie jedes andere. Genauso kundenorientiert. Also auch eine Windel muss man ja nicht unbedingt kaufen, man kann auch mit Stoffwindeln – also eine Wegwerfwindel, Einwegwindeln – man kann ja auch mit Stoffwindeln arbeiten, kann man ja auch machen. Und jetzt, je nachdem, mit wem Sie sprechen, könnte jemand sehr dafür die Lanze brechen und sagen: "Die Wegwerfwindeln, das geht gar nicht." Es gibt aber auch Menschen, die beurteilen das ganz anders. Und ich glaube, als Händler ist es unsere Aufgabe, immer zu schauen, was interessiert die Menschen, dann versuchen, ein attraktives Sortiment zusammenzustellen und das anzubieten. Und wenn die Kunden das dann wollen, dann wird's im Sortiment bleiben. Dann wird es auch Innovation geben auf diesem Bereich, weil andere dann auch auf den Regalplatz wollen. Und wenn es nicht erfolgreich ist, wird es wieder rausgenommen und durch andere Artikel ersetzt werden. Deswegen sehe ich da keinen Widerspruch. Und ich glaube, es ist auch unheimlich wichtig, auch gerade in Unternehmen, wo Werte eine große Rolle spielen, dass wir immer aufpassen, dass wir nicht in die Absturzzone der Ideologie geraten. Weil das geschieht sehr, sehr schnell. Also wir finden etwas richtig und wir sehen die Welt dann nur noch unter diesem Gesichtspunkt. Und uns entgeht, dass es auch noch andere Gesichtspunkte gibt, die vielleicht an Wichtigkeit gewinnen. Und da bin ich jetzt wieder überzeugter sozialer Marktwirtschaftler. Das regelt der Markt in der Regel. Also solche Unternehmen, die sehr ideologisch werden, die verlieren ihre Kunden und verschwinden dann vom Markt. Und gerade weil es unser Anliegen ist bei dm-drogerie markt, dass wir in dem unendlichen Spiel des Wettbewerbs langfristig bestehen, ist es so wichtig, dass wir mit unserer Werteorientierung, die wir haben, weil es wichtig ist für die Unternehmenskultur auch, gleichzeitig uns immer klarmachen, dass wir für den Kunden da sind und nicht die Kunden für uns da sind, und wir glauben, die Kunden jetzt belehren zu müssen. Wir müssen gute Kommunikationsangebote machen, damit Menschen möglichst umfassend Entscheidungen treffen können. Und da müssen wir schauen, was die Menschen wollen.
Rainer Münch: Gibt es denn in einem anderen Kontext eine Situation, die Ihnen einfällt, wo Sie mit sich gerungen haben zwischen Purpose versus Profit und am Ende eben auch gesagt haben: "Ich würde jetzt werteorientiert gerne so entscheiden, aber aus der Gesamtwirtschaftlichkeit heraus müssen wir jetzt den anderen Weg gehen in diesem Fall." Oder gelingt es Ihnen im Geschäftsmodell momentan, diese Situation eben immer Richtung Werte dann auch zu entscheiden?
Christoph Werner: Ja, Herr Münch. Ich erlebe Purpose und Profit nicht als Gegensätze, sondern als zwei Seiten der gleichen Medaille. Und gleichwohl ist es so, es gibt auch Menschen, die sehen das anders. Und meine Erkenntnis ist, es ist eine Frage des Zeitraums, den ich betrachte. Also je kürzer der Zeitraum ist, den ich betrachte, umso eher kann das als Widerspruch stehen. Weil den schnellen Euro, den kann ich natürlich auch machen ohne Purpose. Aber langfristig, wenn ich wirklich..., wenn es mir ein Anliegen ist, dass Menschen, ja also sich mit einem Unternehmen verbinden, dass sie sagen, jetzt im Fall von dm-drogerie markt: "dm-Drogeriemarkt ist an meiner Seite. Wenn ich zu dm-drogerie markt gehe, da kann ich mich einfach mit diesem Sortiment beschäftigen und muss mir keine Gedanken machen, ob das jetzt wirklich gute, ob die von der Qualität gut sind die Produkte, oder ob ich da eine böse Überraschung erleben werde." Dann gelingt mir das nur, wenn ich die Kunden nie enttäusche. Und wenn ich die Kunden nie enttäusche, dann muss ich schon mit Werten arbeiten, dass ich mir klarmache: Was wollen die Menschen eigentlich? Also was ist ihnen denn wirklich wichtig? Und zwar implizit, nicht nur explizit. Und dann komme ich automatisch nach meiner Beobachtung zur Qualität. Dass Menschen letzten Endes ja auch einen positiven Beitrag auf dieser Welt leisten wollen, aber natürlich sich relativ machtlos erleben, aber indem sie beispielsweise bei dm-drogerie markt dann auch nachhaltige Produkte kaufen können, also aus dem Angebot wählen können, können sie auch einen kleinen Beitrag dazu leisten, damit die Welt ein bisschen besser wird. Und wenn wir die Kunden da nicht enttäuschen, also indem wir wirklich auch authentisch kommunizieren, also keinen Etikettenschwindel betreiben, was alles unethisch wäre, aber was den schnellen Euro manchmal ermöglichen würde, dann sind wir automatisch langfristig profitabel und trotzdem mit Werten sehr, sehr treu. Und deswegen, wie gesagt, für mich ist es kein Widerspruch, weil ich den langen Zeitraum im Blick behalte.
Rainer Münch: Wenn wir über Handel und Moral ganz allgemein sprechen, dann führt momentan kein Weg vorbei an Temu und Shein, die ja da auch kontrovers diskutiert werden wegen Dumpingpreisen, vermeintlicher Ignoranz von Regeln was Produktsicherheit, Qualitätseinforderungen, auch Zollfreigrenzen etc angeht, sind aber sehr erfolgreich. Sie hatten mal gesagt, dass als Amazon auf den Markt kam, dass es sicherlich auch eine neue Herausforderung war, aber dass man natürlich auch lernen kann aus solchen neuen aggressiven Wettbewerbern. Gibt es denn Dinge, wo Sie sagen, da ist Temu und Shein vielleicht auch innovativ und da gibt es etwas, was auch dm noch inspirieren kann?
Christoph Werner: Ich glaube, was man beobachten kann, ist dass die sich sehr genau angeschaut haben, wie sie in Deutschland beispielsweise erfolgreich sein können, also wo gewisse Schlupflöcher auch sind, um eben die Produkte an die Kunden zu liefern, ohne dass sie der Verzollung unterliegen. Und sie haben auch erkannt, dass der Preis halt wichtig ist für die Menschen. Und auch wenn man auf die Web-Seite geht, also bei Temu habe ich es gesehen, bei Shein habe ich nicht geguckt ehrlich gesagt, aber das ist enorm viel Gamification, also immer so eine künstliche Verknappung, also geht sehr an das Instinkthafte des Menschen. Und das haben die gut beobachtet, haben die genau beobachtet und haben die zur Anwendung gebracht und haben damit auch Erfolg. Es ist noch ein relativ neues Phänomen. Die Frage ist ja, ob sie wirklich treue, eine treue Stammkundschaft gewinnen können im, also über einen längeren Zeitraum. Das ist bei der Qualität, die da oft geliefert wurde, nicht unbedingt der Fall. Und gleichzeitig haben wir aber auch das Phänomen, dass die Aufsicht, also die Behörden ja überhaupt nicht nachgekommen sind in der Kontrolle, ob die Dinge konform sind mit den regulatorischen Rahmenbedingungen, die wir in Deutschland haben im Sinne des Konsumentenschutzes. Also was für Inhaltsstoffe da drin sind, und wenn wir mal vom Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz sprechen, das ist ja nochmal ein ganz anderes Thema. Also wirklich beurteilen wird man es meines Erachtens erst können nach einer gewissen Zeit, wo man dann sieht, ob das zu Vertrauen bei den Kunden führt. Gleichwohl ist natürlich in dieser Zeit, wo sie jetzt im Markt aktiv sind, es schon so, dass dadurch Händler, die ähnliche Sortimente anbieten, unter Druck geraten. Das ist durchaus der Fall. Andererseits habe ich jetzt gerade in den Medien gelesen, dass in den USA beispielsweise Donald Trump dieses Schlupfloch, welches es da auch gegeben hat, um eben nicht verzollen zu müssen, dass er das jetzt per Dekret versiegelt hat. Und damit wird man jetzt sehen, was da passiert. Also es ist so gesehen auch ein relativ fragiles Geschäftsmodell, weil es gewisse Voraussetzungen hat, die sich schnell verändern können, und zwar ohne dass Temu und Shein das beeinflussen könnten.
Rainer Münch: Gibt es da oder gab es da auch einen Moment der Frustration für Sie, wo Sie sagen: „Wir haben so viel gemacht, auch andere Händler, für mehr Nachhaltigkeit im Handel und sozusagen Bewusstsein auch und ein attraktives Preisniveau für eine gute Qualität. Und dann kommt so ein Modell und hatte auch in vielen Segmenten wirklichen Erfolg. Und Kunden entscheiden sich dann eben für die noch günstigere Alternative, die alles andere als nachhaltig ist. Ist das dann auch so ein Moment der Frustration oder ist es für Sie einfach: So ist Marktwirtschaft und das ist der Lauf der Dinge?
Christoph Werner: Also Frustration ist es nicht. Zumal ich allerdings auch zugeben muss, dass wir nicht unmittelbar angegriffen wurden als Geschäftsmodell von denen. Insofern bin ich so ein bisschen ein Zaungast. Das wäre vielleicht anders, wenn ich jetzt ein Versender wäre in Deutschland, der dadurch unmittelbar tangiert ist. Also Frustration kann es dann geben, wenn man sagt, die halten sich nicht an die Spielregeln, an die man sich halten muss als Marktteilnehmer in Deutschland, weil man sonst mit Sanktionen durch die Behörden rechnen muss und die auch auferlegt werden. Also dass die Spielregeln eingehalten werden, ich glaube, das ist richtig, dass das eingefordert wird, und das ist auch Pflicht der Behörden, das zu leisten. So ist das mit dem Gewaltmonopol. Also man gibt die Gewalt ab, aber dann muss diese Gewalt auch ausgeübt werden. Und da haben die Behörden, glaube ich, es schwer gehabt, schnell genug zu reagieren. Der andere Gesichtspunkt ist der, also wenn wir neue Erkenntnisse haben, auch wenn sie uns vielleicht überraschen, sollten wir dankbar dafür sein. Und was man einfach sehen kann, ist ja, solche Modelle funktionieren auch, also mit extremer Gamification und mit ganz, ganz niedrigen Preisen. Und ich glaube, es ist auch wichtig für uns, wenn wir immer sagen, ja, also die Werteorientierung und so weiter und so fort, wir begeben uns da schnell in eine Illusion. Es gibt viele Menschen, die sehr aufs Geld achten müssen oder auch aufs Geld achten wollen, weil sie sich nicht übervorteilen lassen wollen. Und die sind genauso Konsumenten und Kunden in diesem Land. Und da müssen wir uns fragen, wie wollen wir denen begegnen? Und wir bei dm-drogerie markt sind halt wirklich auch der Überzeugung, der Preis ist nicht alles, aber ohne den Preis ist alles nichts. Also wir müssen schon gucken, dass wir die Dinge günstig anbieten können. Jetzt aber nicht, indem wir unethische Rahmenbedingungen haben, sondern indem wir schauen, dass die Dinge effizient gemacht werden und möglichst kundenorientiert gemacht werden, damit möglichst wenig Verschwendung stattfindet.
Rainer Münch: Damit kommen wir zur Abschlussfrage und wenden uns Max Frisch zu. Ich hatte Sie ja vorher gebeten, eine Frage aus seinem Fragebogen auszuwählen und Sie haben ausgewählt: „Wenn Sie Macht hätten zu befehlen, was Ihnen heute richtig scheint, würden Sie es befehlen gegen den Widerspruch der Mehrheit?“ Wie kamen Sie auf diese Frage und was ist Ihre Antwort darauf?
Christoph Werner: Ja, ich finde es eine entscheidende Frage, weil gerade wenn Sie Gestaltungsmacht haben, ist das genau die Frage. Also wie gehen Sie damit um, wenn Sie eine Überzeugung haben und die Menschen jetzt, mit denen Sie das diskutieren, diese Überzeugung nicht haben? Entweder weil sie Sie noch nicht verstanden haben oder vielleicht, weil Sie selbst auf dem Holzweg sind. Das ist ja oft nicht so ganz klar. Und das ist genau die Frage: Wie gehen Sie damit denn um? Jetzt als Demokrat können Sie sagen: immer nur Mehrheitsentscheidung. Aber andererseits, die wirklichen Impulse und manchmal großen Würfe kamen nicht unbedingt durch demokratische Prozesse. Das muss man einfach auch im Blick haben. Sondern das waren Visionen, die von Menschen verfolgt wurden, trotz aller Widerstände, und dann die Welt wirklich auch verändert haben. Sonst finden Innovationen nicht statt. Und deswegen ist es eine ganz, ganz wichtige Frage, der man sich immer wieder stellen muss und die mich auch immer wieder beschäftigt in Situationen, wo ich einfach merke, ich habe eine Überzeugung, dass was in einer gewissen Art und Weise gemacht werde. Aber ich erlebe, dass die Idee noch nicht wirklich anschlussfähig ist. Und da kommt es wirklich auf die Situation an, es gibt da Momente, wo man sagen muss: Nein, das halte ich jetzt für richtig, und ich möchte, dass wir das auch so machen. Wobei es dann wichtig wiederum ist, dass sie trotzdem getragen wird von den Menschen, nämlich auch als Vorsitzender einer Geschäftsführung können Sie die Dinge ja selbst dann nicht umsetzen. Da sind Sie auf die Menschen angewiesen. Und in der Umsetzung gibt es immer wieder Überraschungen. Und mit diesen Überraschungen muss konstruktiv umgegangen werden. Und wenn die Menschen etwas gegen ihren eigenen Willen tun, dann werden sie diese Überraschungen als Entschuldigung dafür nehmen, warum etwas nicht ging. Wenn sie es aber trotzdem für richtig halten, werden sie Wege finden, es trotzdem zum Ziel zu führen. Deswegen auch dieses Schlagwort: Wer will, findet Wege; wer nicht will, findet Gründe. Also das ist wichtig. Und deswegen, auch wenn es dann eine Situation gibt, wo ich jetzt mal sage, nein, das halte ich jetzt für richtig, das sollten wir machen, ist es trotzdem wichtig zu erklären und dann versuchen, die Menschen mitzunehmen und es nicht sozusagen despotisch dann einfach durchdrücken zu wollen. Geht vielleicht auch vorübergehend, allerdings mit enormem Ressourcenaufwand. Und den sollte man meines Erachtens anders nutzen. Und ich glaube gerade im politischen Geschehen im Moment, gerade wenn man auch nach Amerika guckt, kann man im Moment sehr, sehr gut sehen, wie da wieder vorgegangen wird und ob da ein Segen drauf liegt. Das werden wir mal noch sehen. Ja, das werden wir mal noch sehen.
Rainer Münch: Lieber Herr Werner, das würde ich gerne als Schlusswort und Schluss-Statement so stehen lassen. Es hat mich sehr gefreut, Sie heute als Gast bei Purpose versus Profit begrüßen zu dürfen.
Christoph Werner: Vielen Dank für die Zeit.
(Das Gespräch wurde aufgezeichnet am 11. April 2025)