Hart aber fair

Philipp Wyss, Vorsitzender der Geschäftsleitung von Coop, im Gespräch mit Rainer Münch

Philipp Wyss und Rainer Münch

25 min read

Double Quotes
Hart aber fair, sage ich immer, ist mein Motto. Und die Leidenschaft und das Herzblut, denke ich, das ist einfach das Wichtigste.
Philipp Wyss, Vorsitzender der Geschäftsleitung von Coop

Philipp Wyss ist Vorsitzender der Geschäftsleitung der Coop Gruppe. Sein Motto ist „hart aber fair“. Er agiert mit Leidenschaft und Herzblut und beschreibt seine grundsätzliche Haltung mit: entweder macht man etwas mit Überzeugung oder man macht es nicht.

Drei Werte sind Philipp Wyss besonders wichtig: Kundenfokus, Unternehmertum sowie Verantwortung übernehmen für Mensch, Tier und Umwelt. Das Wichtigste ist aus seiner Sicht die Frage: Was bringt das den Kundinnen und Kunden? Diese Frage muss man sich bei jedem Produkt, jeder Innovation und jedem Projekt stellen sowie ergänzen durch: Würde ich das mit meinem eigenen Geld auch machen?

Philipp Wyss sagt von sich selbst, dass er kein Büro braucht und lieber draußen bei den Menschen vor Ort ist. Zudem ist ihm Heimat sehr wichtig: Dort kommt man her, dort hat man viel gelernt, und man muss Heimat auch beschützen.

Das Gespräch wurde aufgezeichnet am 10. Dezember 2024.

Den Podcast gibt es hier:  Apple Podcasts | Spotify | Youtube

Rainer Münch: Heute ist Philipp Wyss zu Gast. Er ist Vorsitzender der Geschäftsleitung der Coop Gruppe Genossenschaft, die im Schweizer Detailhandel sowie im europäischen Großhandel tätig ist. Nach Kaufmanns- und Metzgerlehre war er zunächst für einige Jahre bei der Migros beschäftigt, bevor er 1997 zur Coop wechselte. Dort ging es dann über verschiedene Stationen in Einkauf, Category Management und Verkauf bis ganz nach oben. Philipp ist verheiratet, Vater von drei erwachsenen Kindern, begeisterter Hobbykoch und leidenschaftlich gerne in den Schweizer Bergen. Lieber Philipp, ich freue mich, dass du heute bei Purpose vs Profit zu Gast bist. 

Philipp Wyss: Danke Rainer, freue mich auch. 

Rainer Münch: Philipp, zum Einstieg sprechen wir über Handel, über Coop. Ich persönlich kenne wenige Menschen, die so viel Leidenschaft für den Handel vermitteln wie du. War das bei dir schon immer so und in die Wiege gelegt oder hat sich das während deines Berufslebens entwickelt?

Philipp Wyss: Nein, ich glaube, das hat sich enorm entwickelt. Aber eines hatte ich natürlich immer: Leidenschaft. Egal, was man macht. Ich machte ja früher enorm viel Sport, unterschiedliche Sachen. Und die Leidenschaft und das Herzblut, denke ich, das ist einfach das Wichtigste. Und: Ja, Handel kam dann ein wenig dazu, ich war dann in einer Großmetzgerei, fand das toll, aber so richtig hat es mich dann erst wirklich im Retail gepackt bei der Konkurrenz und dann vor allem bei Coop.

Rainer Münch: Du sprichst es an, bei der Konkurrenz hattest du begonnen, sozusagen im Detailhandel. Jetzt spricht man in der Schweiz ja gerne davon, dass es die Migros- und die Coop-Kinder gibt. Und so ein Wechsel ist ja schon ein relativ großer Schritt in der Schweiz. Wie kam es dazu?

Philipp Wyss: Ja, der war sehr gut überlegt. Ich hatte damals natürlich junge Chefs, wollte auch mit Leidenschaft weiterkommen und hatte dann die Möglichkeit, zu Coop zu wechseln, kannte da ein paar Leute von früher her und nahm dann die Chance wirklich wahr.

Rainer Münch: Ja, du hast es ja auch nicht bereut.

Philipp Wyss: Nee, nee, ganz sicher nicht.

Rainer Münch: Jetzt ist Coop im europäischen Handel ganz klar ein Vorreiter in punkto Nachhaltigkeit und auch in punkto Werteorientierung und daher natürlich auch ein toller Anknüpfungspunkt für unser Gespräch. Was bedeutet dir das persönlich, dass Coop dafür auch steht und einsteht?

Philipp Wyss: Ja, Coop ist ja Genossenschaft und seit 1973 steht es auch in den Statuten von Coop, dass wir nachhaltig wirtschaften wollen. Und wir haben seit vielen Jahren eine klare Strategie. Die basiert auf drei Säulen. Und hier ist nicht nur Produkt, das nachhaltig sein muss, sondern auch Klimaziele, natürlich. Wir haben eine eigene Eisenbahn, die Verkaufsstellen versorgt, und dann natürlich auch die Gesellschaft und die Mitarbeitenden, die entscheidend sind. Dieser Ausgleich vom Produkt über das Klima bis zum Mensch, das finde ich schon ganz toll und das macht große Freude.

Rainer Münch: Wie würdest du denn deine persönliche Werteorientierung beschreiben? Was ist dir persönlich auch wichtig im Leben an Werten?

Philipp Wyss: Ja, ganz viel natürlich und sehr unterschiedlich. Aber eines steht im Mittelpunkt: der Mensch. Unsere Mitarbeitenden. Sie machen den großen Unterschied aus. Daran glaube ich ganz fest und wir sind ja ein Unternehmen mit vielen Menschen, mit vielen Mitarbeitenden. Und deshalb ist enorm wichtig, dass wir hier wirklich auch Sorge dazu tragen, fair sind. Hart aber fair, sage ich immer, ist mein Motto.

Rainer Münch: Wo kommt dieser starke Menschenbezug bei dir her? Ist das etwas, was du irgendwie in der Kindheit aufgenommen hast? Was dir weitergegeben wurde? Hat sich das im Lauf der Zeit erst entwickelt?

Philipp Wyss: Nein, wie gesagt, ich verbrachte ja meine Jugendzeit in der Turnhalle, sieben Tage. Meinen Vater habe ich nur dort gesehen. Und ich glaube schon, das hat mich geprägt. Ich habe sehr früh Verantwortung übernommen, habe mit 14 schon diverse Sachen geleitet, mit 18 große Skilager schon geleitet, und das hat mich schon sehr geprägt. Also diese Zeit vor 20 denke ich, ist entscheidend. Und das ist übrigens immer meine erste Frage, wenn ich Menschen einstelle bei uns: Was hast du gemacht zwischen 14 und 20? Weil ich glaube, dort entscheidet sich viel im Leben.

Rainer Münch: Jetzt hatte ich dich gebeten, einen Wertegegenstand mitzubringen. Und es sind keine Sportschuhe oder auch kein Sprungseil, sondern es ist ein Haus. Das ist vielleicht so 30 Zentimeter hoch. Es ist gebastelt aus Papier. Es ist oben orange, dann in der Mitte mit einem Block gelb und unten wird es dann blau. Was ist das für ein Haus und warum hast du es mitgebracht?

Philipp Wyss: Da bin ich enorm stolz. Das war unsere erste Handlung. Als ich neuer CEO wurde, kriegte ich den Auftrag, jetzt wirklich Coop – zusammen mit dem Verwaltungsrat natürlich – ein wenig zu modernisieren, sagen, wo sind unsere Strategien, was sind unsere Ziele für die nächsten 20 Jahre? Und so haben wir eigentlich dieses Haus gemacht und ein Haus natürlich wunderbar mit einem starken Fundament, mit Werten, Kundenorientierung, Unternehmertum und verantwortungsvoll. Darüber: Wie wollen wir zusammenarbeiten? Also Führungsgrundsätze, fünf, ganz einfach. Dann einen strategischen Rahmen. Da geht es darum, dass der Verwaltungsrat für all unsere Firmen Vorgaben macht. Und hier haben wir drei Vorgaben, nämlich soziale und ökologische Nachhaltigkeit. Dann der technologische Rahmen, Digitalisierung und natürlich auch Rentabilität. Und darüber aufbauend haben wir dann die Strategie für jedes Unternehmen, ob es ein kleines Tropenhaus ist oder eine große Bell-Food-Gruppe – ok.

Rainer Münch: Jetzt gibt es viele Führungskräfte, die haben in ihrer Karriere auch schon Strategiehäuser gebaut und die kamen und gingen. Was ist dein Ansatz, wie du sicherstellst und sicherstellen möchtest, dass dieses Haus auch im Alltag der Coop-Mitarbeitenden ankommt und zu Verhaltensveränderungen und Entwicklung führt?

Philipp Wyss: Wichtig ist: einmal ist keinmal. Und deshalb haben wir an den Zielsetzungsprozessen, die wir ja ganz von top oben, von der Geschäftsleitung bis zum Geschäftsführer runter machen, bis nach Rumänien und Spanien, behandeln wir dies jedes Jahr. Wie gehen da die Ziele durch. Gehen dort natürlich auch die Werte durch. Versuchen zu erklären, was steht dahinter: Unternehmertum? Was steht dahinter: Kundenorientierung? Ich bin Vorbild: Was heißt das? Machen Übungen dazu. Und so hoffe ich doch, dass wir über drei, vier Jahre das Haus auch sichtbar für unsere Kundinnen und Kunden und für unsere Mitarbeitenden so positionieren können.

Rainer Münch: Ist es für dich auch ein wichtiger Dialog mit den Mitarbeitenden, den du führst über die Werte, und dass du sozusagen das auch in deinen Begegnungen entsprechend thematisierst?

Philipp Wyss: Absolut. Also wie gesagt, ich bin Vorbild, also das ist so wichtig und das liegt mir extrem am Herzen, dass das wirklich auch gelebt wird, insbesondere von unseren Führungskräften. Also das hat wirklich auch viel damit zu tun, dass man im Alltag das Haus auch wirklich brauchen kann.

Rainer Münch: Jetzt kann ich mir vorstellen, dass in jedem Baustein von diesem Haus viel Herzblut steckt, auch von dir viel Herzblut steckt. Gibt es trotzdem die eine oder andere Facette, die für dich besonders wichtig ist, mit der du dich besonders verbunden fühlst?

Philipp Wyss: Ich würde sagen: ganz oben und ganz unten. Wie gesagt, ein Fundament braucht klare Werte für ein Unternehmen. Und hier haben wir wirklich diese drei wichtigen Werte: der Kundenfokus, das Unternehmertum und dann die Verantwortung zu übernehmen für Mensch, Tier und Umwelt. Und das ist sicher ganz wichtig. Und oben natürlich auch unsere Vision, wo wir hinwollen. Also wir wollen Leader werden im Detailhandel Schweiz. Das sind wir noch nicht. Wir wollen führend sein in der europäischen Gastronomieversorgung und schlussendlich dann führend in der vertikalisierten Produktion. Und das sind sicher ganz, ganz wichtige, auch langfristige Ziele.

Rainer Münch: Du bist in deiner Rolle als Vorsitzender der Geschäftsleitung natürlich sozusagen immer erreichbar und immer dabei, aber nicht 24 Stunden am Arbeiten am Tag. Wie finden diese Werte für dich denn im Privaten statt? Was ist dir da wichtig und was ist da die Übertragung?

Philipp Wyss: Das ist mir natürlich enorm wichtig, dass ich auch natürlich diese Werte auch privat leben kann und insbesondere natürlich auch, egal welche, ob Kunde oder ob Unternehmertum oder dann natürlich auch die Verantwortung zu übernehmen, liegt mir enorm am Herzen. Und das versuche ich natürlich nicht nur im Geschäft, sondern auch privat wirklich an den Tag zu legen.

Rainer Münch: Jetzt ist ja diese Werteorientierung manchmal auch herausfordernd. Und da habe ich auch eine moralische Frage mitgebracht, in deiner Rolle als Coop-Verantwortlicher, denn letzten Endes ist Coop auch ein Unternehmen und auch hier liest man immer wieder von Rationalisierungsmaßnahmen, die dann auch Veränderungen für Mitarbeitende nach sich ziehen. Man liest von einer strengen Politik, was das Thema Homeoffice-Regelung angeht oder auch mal von harten Auseinandersetzungen mit Lieferanten bis hin zum Bestellstopp oder auch der Einführung von Ersatzprodukten. Stößt in solchen Fällen die Werteorientierung von Coop an ihre Grenzen?

Philipp Wyss: Nein, überhaupt nicht. Ich glaube, es braucht klare Ansagen, klare Ziele. Und wenn man sich innerhalb von diesen Feldern bewegt, dann sehe ich da überhaupt keinen Widerspruch. Und ich sage mal, wenn wir das Thema Homeoffice nehmen: Da sehe ich keinen Widerspruch. Von unseren 96.000 Leuten können 90.000 Leute – Mitarbeitende – kein Homeoffice machen. Und so war mein Anspruch natürlich auch: Wir sind fair zu allen und es können nicht alle dann sieben Tage Homeoffice machen. So ein Tag genügt. Und ich glaube, mit dieser klaren Regelung sind wir sehr gut gefahren und es wäre schlimmer gewesen, drei Tage zu geben und wieder zurückzukrebsen auf einen Tag. Also: Ich glaube auch hier, Disziplin ist uns sehr wichtig und da sind natürlich auch die Lieferanten wichtig, weil auch hier, wir brauchen einfach auch Fortschritte in den Preisen. Wir haben Nachteile in der Schweiz zum EU-Raum und wir müssen kämpfen als kleine Schweiz für bessere Preise und da wollen wir auch klar sein und hart sein. Und wenn dann ein Ben’s Reis fast sechs Schweizer Franken kostet und der Preiseinstieg bei uns 1,50. Da muss ich schon sagen: Gleiche Qualität – was soll das? Den können wir auslisten.

Rainer Münch: Wie erlebst du da die Lieferanten? Erlebst du da mitunter auch Verständnis im persönlichen Gespräch für die Situation, die ja vollkommen nachvollziehbar ist? Oder ist es dann doch so weit weg, wie das gesteuert wird, dass es dann sehr unpersönlich wird in der Auseinandersetzung?

Philipp Wyss: Nein, also ich glaube, im Großen und Ganzen haben wir sehr gute Kontakte mit allen Lieferanten. Es sind ja die Ausnahmen, die dann wirklich hoch poppen. Aber grundsätzlich sind wir ein verlässlicher Partner. Ich bin froh, dass wir so starke Marken haben in der Schweiz. Das ist für uns wichtig. Wir sind der Markenverkäufer in der Schweiz. Aber dass man zwischendurch auch kämpfen muss, auch für unsere Kundinnen und Kunden als Genossenschaft, ist ja klar.

Rainer Münch: Jetzt sprechen wir über Purpose vs Profit und dieses Spannungsfeld, was mal ausgeprägter ist, mal weniger ausgeprägt. Fällt Dir eine Situation ein, wo du schweren Herzens auch mal dich für den Profit und gegen den Purpose entscheiden musstest und eine Entscheidung treffen musstest, die sozusagen aus Wertegesichtspunkten schwergefallen ist, aber einfach für das Unternehmen wichtig war?

Philipp Wyss: Ja, ich glaube, die muss man ja als Unternehmer immer wieder machen und manchmal sind sie kleiner, manchmal größer. Das gehört dazu zum Unternehmertum. Aber man muss immer dann auch es sauber machen, mit Anstand machen, sage ich als Genossenschaft sowieso, egal in welchem Bereich, oder auch in Sachen Lieferanten, nützt ja nichts, wenn der Bioartikel schön ist und gut ist, aber niemand kauft es, dann muss man es wieder auslisten. Das tut mir dann weh für den Geschäftspartner vielleicht, aber da muss man einfach durch – aber sauber machen und immer fair.

Rainer Münch: Fällt dir eine Situation ein, wo dir das besonders schwergefallen ist, was dich besonders bewegt hat in dem Moment, wo du gesagt hast: Mensch, das ist jetzt echt eine harte Entscheidung?

Philipp Wyss: Nein, ich glaube, es gehört wirklich zum Unternehmertum, dass man sich dem wirklich täglich stellen muss, weil es gehört einfach dazu, dass man natürlich an der Rentabilität wirklich auch arbeitet und wenn man mehr Kosten hat, mehr Kosten für Saläre ausgibt, für Personalkosten, muss auf irgendeine andere Art, das auch wieder kompensiert werden.

Rainer Münch: Landen bei dir da auf dem Schreibtisch manchmal Schicksale, dass dann auch Mitarbeitende von Entscheidungen betroffen sind und die dann eben auch sagen, was das für sie persönlich bedeutet und die das dann auch an dich eskalieren? Oder ist das in der Regel durch die Kommunikation von vorneherein schon so eingeordnet, dass es dazu nicht kommt – in Anführungszeichen?

Philipp Wyss: Im Großen und Ganzen sind das wirklich nur Ausnahmen und Einzelfälle, weil wir ja versuchen, das auch gut zu machen. Und wir entlassen nicht einfach Leute, sondern haben immer in den letzten 20 Jahren die Leute mitgenommen, haben ihnen einen anderen Job angeboten, und das sind dann wirklich nur die Ausnahmefälle, die bei mir landen.

Rainer Münch: Mal von den Mitarbeitenden noch mal zu den Kundinnen und Kunden Was landet da so bei dir? Was landet bei dir an Feedback, an Rückmeldungen von den Kundinnen und Kunden zu Coop?

Philipp Wyss: Sehr viel und ganz unterschiedlich. Als Beispiel, als die Hauptkonkurrenz gesagt hat: Wir machen die Knospe, Bio-Knospe ist ja das beste Bio in Europa, nur noch im Inland, nicht mehr im Ausland. Da haben mir viele Kundinnen und Kunden geschrieben und gesagt: Hoffentlich machen sie Service dann anders als die Coop. Wir schätzen diese Produkte, wenn sie auch mit der Knospe aus dem Ausland kommen. Und das ist ein typischer Fall. Dann natürlich bei Umbauten gibt es immer wieder Themen, obwohl wir viel da natürlich in Marktforschung hineinstecken. Aber die Leute sagen: Ja, ich finde dann mein Produkt nicht mehr oder das gibt es nicht mehr, ich möchte lieber etwas anderes. Also viele kleine Sachen – bis natürlich auch andere Sachen und wo der Kunde sich dann vielleicht ja sagte: Ist Coop wirklich so günstig wie ihr immer sagt oder was ist da los? Und: sehr unterschiedlich.

Rainer Münch: Bewegt dich das, wenn dich Kunden-Feedbacks erreichen? Wo du dich dann auch wirklich freuen kannst und sagen kannst: Das war jetzt wirklich mal ein tolles Feedback, da freue ich mich. Oder auch wo dich ärgerst und sagst, das sollte uns nicht passieren?

Philipp Wyss: Sowohl als auch. Und wir haben ja uns zum Ziel gesetzt, nicht nur immer zu schreiben, sondern auch ein Geschäftsleitungsmitglied mal telefoniert. Und ich kann dir sagen, das ist die beste Taktik, egal ob Freude oder Ärger, mal anzurufen. Auch ich habe das schon gemacht, zu sagen „Hallo, hier ist der Philipp Wyss, Chef von Coop. Dann ist meistens das Mikrophon auf der anderen Seite oder das Telefon kurz still und das tut gut. Und ich denke, wir müssen wirklich auch hier als Händler das händlerisch lösen.

Rainer Münch: Das beschäftigt ja viele Führungskräfte, dieser Kundenfokus: Wie kann ich möglichst nah ran an die Kunden? Ich glaube, über die letzten Jahre hat sich Coop da wirklich sehr gut entwickelt und auch als Detailhändler positioniert, der nah dran ist an den Kunden. Was ist da dein Tipp an Führungskräfte? Wie kann ich diese Kundenorientierung entwickeln, stärken für mich selbst, aber eben auch für meine Führungscrew?

Philipp Wyss: Ganz einfach. Das Wichtigste ist, sich die Frage zu stellen: Was bringt es den Kundinnen oder Kunden? Und das ist die wichtigste Frage, die man sich bei jedem Produkt, bei jeder Innovation, bei jedem Projekt stellen muss. Wir haben dann noch zwei andere spannende Fragen. Immer auch zu unseren Werten, nämlich: Würde ich es mit meinem eigenen Geld auch machen? Und dann kann ich mit gutem Gewissen am Abend nach dieser Entscheidung auch in den Spiegel schauen. Und ich denke, das sind so wirklich ganz einfache Fragen, die einem helfen, einmal wirklich auch zu sagen: Stopp, machen wir nicht.

Rainer Münch: Du hast vorher angesprochen: Fast 100.000 Mitarbeitende über Europa verstreut. Es ist ja auch eine Herausforderung, die viele Führungskräfte haben, zu sagen das mit dem Vorleben und mit den Grundsätzen bekomme ich hin in meinem unmittelbaren Umfeld. Aber: Was ist dein Rezept, damit es bis nach Rumänien kommt, damit es bis in die kleinste Verkaufsstelle im Tessin in den Bergen irgendwie auch kommt, dieses Denken, diese Haltung?

Philipp Wyss: Ich glaube, für uns sind zwei Punkte enorm wichtig in der ganzen Coop Gruppe: Die eine Sicht ist wirklich Nähe. Nähe auch zu unseren Mitarbeitenden. Ich sage ja immer, ich brauche kein Büro, ich bin lieber draußen bei den Leuten. Ich glaube, wir sind enorm viel auf der Fläche und eben nicht im Büro. Das macht es auch aus und da wollen wir auch sein, nahe zu spüren, was unsere Mitarbeitenden oder dann die Kunden bewegt. Und das Zweite, für das stehe ich wirklich da, wirklich eine breite Führung. Nur fünf, sechs Leute zu führen, ist nichts. Breit! 10, 12, 15, da bin ich überzeugt, dann geht man auch in die Details, hat diese ganze Breite in allen Diskussionen, und das glaube ich, macht den Unterschied aus in der Coop Gruppe.

Rainer Münch: Da hake ich jetzt gerne mal ein, weil dieses Thema Führungsspanne ist natürlich auch viel diskutiert in Unternehmen. Führungskräfte machen sich Gedanken dazu. Du plädiert jetzt für eine sehr große Führungsspanne, sagst zugleich, dass es dann auch darum geht, in die Tiefe zu gehen. Ist es nicht ein Widerspruch, zu sagen ich habe eigentlich, ich sage jetzt mal 15 Leute, die ich steuere, und dann soll ich auch noch in die Tiefe gehen. Wie gelingt mir das?

Philipp Wyss: Nein, überhaupt nicht. Es ist klar, man braucht dann wirklich auch Leidenschaft und Herzblut für die Details. Man muss wirklich danach mal in den Läden sich um Beleuchtung kümmern, wenn man nicht zufrieden ist und sagen, wie man es haben will, wie die Einrichtung sein muss, mal etwas herumschieben. Und ich glaube einfach, auch hier: Entweder macht man es mit Überzeugung oder man macht es nicht. Und ich möchte nicht 30-seitige Konzepte haben. Ich möchte hier wirklich als Unternehmer und als Händler die Sachen vor Ort erkennen, wissen und dann auch sagen: Ja, die Richtung stimmt. Also ich glaube, es ist möglich eine breite Führung zu haben und trotzdem sehr detailliert in der Tiefe arbeiten zu können. 

Rainer Münch: Bei Coop ist es ja, so wie es viele dann lösen, ist es zu sagen, ich habe vielleicht 15, für die ich verantwortlich bin, aber ich sage jetzt mal zehn von denen, die laufen selbstständig, die brauchen relativ wenig Betreuung und dafür konzentriere ich mich deutlich stärker auf die fünf. Und durch diese Akzentuierung gelingt es dann auch besser, in die Tiefe zu kommen, als wenn ich versuchen würde, alle 15 irgendwie gleichmäßig zu betreuen, egal ob das nun Führungskräfte sind, die ich betreue, oder Mitarbeitende oder eben Verkaufsstellen und Verkäufer.

Philipp Wyss: Das ist so. Das ist wie zu Hause mit den Kindern, sie sind nicht immer alle gleich aufwändig in der Betreuung. Und das ist genau ein wichtiger Punkt natürlich in der Führung, dass man dort in die Tiefe geht, wo es wirklich was braucht, wo man neue Konzepte hat, wo man Probleme hat und die ein andermal auch die Freiheit ihnen gibt, die Verantwortung, die Kompetenz, die Aufgaben übergibt. Und das gehört ja auch zur Wertschätzung und zum Unternehmertum oder dann auch natürlich zum verantwortungsvollen Umgang mit unseren Mitarbeitenden.

Rainer Münch: Ein schöner Vergleich mit der Kindererziehung. Da ist es in der Tat auch so, dass die Aufmerksamkeit sehr unterschiedlich verteilt wird, und verteilt werden muss mitunter. Ich hatte dich ja auch gebeten, dich ein bisschen mit dem Fragebogen von Max Frisch noch zu beschäftigen und eine Frage mitzubringen von ihm. Und du hast dich entschieden für: Wie viel Heimat brauchen sie? Und da interessiert mich zum einen deine Antwort, aber zum anderen auch, warum du dich für diese Frage entschieden hast.

Philipp Wyss: Ich denke, es hat etwas zu tun mit der Lebenserfahrung, warum ich eben die Heimat gewählt habe. Ich denke, wenn man jung ist, möchte man die ganze Welt – viele möchten die ganze Welt sehen, möchten viel verändern, glauben, dass viel anders und besser ist auf dieser Welt. Wenn man dann ein wenig zurückkommt, in die Tiefe geht, zurück zu den Wurzeln, lernt man auf einmal schon auch wieder Themen kennen, die sagen: Ja, Heimat ist eben wichtig, da komme ich her, da habe ich viel gelernt. Heimat muss man auch beschützen. Ich nehme unsere Alpen, mit unseren Kühen. Und was soll dann das, wenn man keine Kühe mehr hat auf der Alp oben? Und deshalb glaube ich, Heimat prägt einen enorm und wir müssen schauen, dass wir eben einfach bleiben, eine mündige Gesellschaft bleiben, nicht alles totregulieren durch neue Gesetze und deshalb: Heimatwurzeln, das alles mitzunehmen, finde ich enorm wichtig, auch für die Zukunft.

Rainer Münch: Was ist für dich Heimat? Ist Heimat für dich ein Ort? Ist es ein Haus? Sind es die Menschen? Ist es die Natur? Ist es ein Kanton? Ist es ein Land? Was ist deine Heimat?

Philipp Wyss: Die Heimat für mich im Grundsatz ist natürlich die Schweiz, sind die Alpen, sind die Berge, sind meine lieben Kühe da oben überall, aber natürlich auch meine Umgebung, meine Familie. Von wo komme ich? Was habe ich gemacht? Das gehört alles dazu, wirklich in der ganzen Breite.

Rainer Münch: Wie würdest du deinen Bezug zur Natur beschreiben? Wie ist es für dich, auch wenn du in der Natur unterwegs bist und am Berg wandern bist, was löst es aus oder was passiert da?

Philipp Wyss: Es gibt nichts Schöneres, ob im Schnee zu laufen oder im Sommer auf die Berge zu gehen. Ich tanke da enorm viel Kraft von der Natur und deshalb müssen wir auch Sorge tragen zu ihr.

Rainer Münch: Und ist es so, dass du dann die Ruhe hast, um einfach auch nachzudenken und wo du dann sozusagen auch Dinge entwickelst und Ideen hast? Oder ist es eher so, dass du dann abschalten kannst und in der Natur versinkst und die Natur beobachtest und sozusagen mit den Gedanken eben gerade nicht bei der Arbeit ist?

Philipp Wyss: Da habe ich zwei Rhythmen. Einmal, wenn ich ein Problem habe und das kommt öfters vor, dann gehe ich am liebsten joggen. Und dann gehe ich joggen, um einen kleinen See herum. Einfach monoton, muss mich nicht auf den Weg konzentrieren, rundherum. Und garantiert nach einer halben Stunde oder Stunde ist das Problem gelöst. Wenn ich dann wirklich nur genießen und abschalten will, dann gehe ich lieber ein wenig hoch und tief, über Berge, Hügel, da ist dann mehr Abwechslung.

Rainer Münch: Und die schweren Probleme kriegen dann mehr Runden, oder?

Philipp Wyss: Genau. So ist es.

Rainer Münch: Solange, bis es gelöst ist. Ist es etwas, was du auch an deine Kinder weitergegeben hast? Dieser Heimatbezug und dieses Wohlfühlen in der Natur, in den Bergen?

Philipp Wyss: Ich bin froh, dass alle gerne in die Berge gehen, alle Sport treiben. Aber es ist klar, die haben auch den Drang, da überall hinzugehen. Meine älteste Tochter kann jetzt gerade mit der Uni natürlich in die Antarktis gehen. Das finde ich auch toll. Untersuchungen machen dort über Wasser mit Plastik. Wie sieht das dort aus? Also ich verstehe den Drang der Jungen natürlich auch rauszugehen, etwas zu erleben und ich glaube, das gehört eben auch dazu, zum Leben.

Rainer Münch: Vielen Dank Philipp für diese Reflektionen unter der Überschrift Purpose vs Profit. Ich denke, du hast ganz viele Beispiele und Perspektiven mitgebracht, wie sich das vereinbaren lässt. Gerade am Beispiel von Coop eben mit einer starken Werteorientierung, viel Nachhaltigkeit und trotzdem unternehmerisch eben auch die harten Entscheidungen zu treffen. Du hast gesagt: „hart aber fair“ als Motto und damit möchte ich mich herzlich bei Dir bedanken, dass du heute bei Purpose vs Profit bei mir zu Gast warst. Es hat mir große Freude gemacht.

Philipp Wyss: Danke Rainer, mir auch. Besten Dank.

    Philipp Wyss ist Vorsitzender der Geschäftsleitung der Coop Gruppe. Sein Motto ist „hart aber fair“. Er agiert mit Leidenschaft und Herzblut und beschreibt seine grundsätzliche Haltung mit: entweder macht man etwas mit Überzeugung oder man macht es nicht.

    Drei Werte sind Philipp Wyss besonders wichtig: Kundenfokus, Unternehmertum sowie Verantwortung übernehmen für Mensch, Tier und Umwelt. Das Wichtigste ist aus seiner Sicht die Frage: Was bringt das den Kundinnen und Kunden? Diese Frage muss man sich bei jedem Produkt, jeder Innovation und jedem Projekt stellen sowie ergänzen durch: Würde ich das mit meinem eigenen Geld auch machen?

    Philipp Wyss sagt von sich selbst, dass er kein Büro braucht und lieber draußen bei den Menschen vor Ort ist. Zudem ist ihm Heimat sehr wichtig: Dort kommt man her, dort hat man viel gelernt, und man muss Heimat auch beschützen.

    Das Gespräch wurde aufgezeichnet am 10. Dezember 2024.

    Den Podcast gibt es hier:  Apple Podcasts | Spotify | Youtube

    Rainer Münch: Heute ist Philipp Wyss zu Gast. Er ist Vorsitzender der Geschäftsleitung der Coop Gruppe Genossenschaft, die im Schweizer Detailhandel sowie im europäischen Großhandel tätig ist. Nach Kaufmanns- und Metzgerlehre war er zunächst für einige Jahre bei der Migros beschäftigt, bevor er 1997 zur Coop wechselte. Dort ging es dann über verschiedene Stationen in Einkauf, Category Management und Verkauf bis ganz nach oben. Philipp ist verheiratet, Vater von drei erwachsenen Kindern, begeisterter Hobbykoch und leidenschaftlich gerne in den Schweizer Bergen. Lieber Philipp, ich freue mich, dass du heute bei Purpose vs Profit zu Gast bist. 

    Philipp Wyss: Danke Rainer, freue mich auch. 

    Rainer Münch: Philipp, zum Einstieg sprechen wir über Handel, über Coop. Ich persönlich kenne wenige Menschen, die so viel Leidenschaft für den Handel vermitteln wie du. War das bei dir schon immer so und in die Wiege gelegt oder hat sich das während deines Berufslebens entwickelt?

    Philipp Wyss: Nein, ich glaube, das hat sich enorm entwickelt. Aber eines hatte ich natürlich immer: Leidenschaft. Egal, was man macht. Ich machte ja früher enorm viel Sport, unterschiedliche Sachen. Und die Leidenschaft und das Herzblut, denke ich, das ist einfach das Wichtigste. Und: Ja, Handel kam dann ein wenig dazu, ich war dann in einer Großmetzgerei, fand das toll, aber so richtig hat es mich dann erst wirklich im Retail gepackt bei der Konkurrenz und dann vor allem bei Coop.

    Rainer Münch: Du sprichst es an, bei der Konkurrenz hattest du begonnen, sozusagen im Detailhandel. Jetzt spricht man in der Schweiz ja gerne davon, dass es die Migros- und die Coop-Kinder gibt. Und so ein Wechsel ist ja schon ein relativ großer Schritt in der Schweiz. Wie kam es dazu?

    Philipp Wyss: Ja, der war sehr gut überlegt. Ich hatte damals natürlich junge Chefs, wollte auch mit Leidenschaft weiterkommen und hatte dann die Möglichkeit, zu Coop zu wechseln, kannte da ein paar Leute von früher her und nahm dann die Chance wirklich wahr.

    Rainer Münch: Ja, du hast es ja auch nicht bereut.

    Philipp Wyss: Nee, nee, ganz sicher nicht.

    Rainer Münch: Jetzt ist Coop im europäischen Handel ganz klar ein Vorreiter in punkto Nachhaltigkeit und auch in punkto Werteorientierung und daher natürlich auch ein toller Anknüpfungspunkt für unser Gespräch. Was bedeutet dir das persönlich, dass Coop dafür auch steht und einsteht?

    Philipp Wyss: Ja, Coop ist ja Genossenschaft und seit 1973 steht es auch in den Statuten von Coop, dass wir nachhaltig wirtschaften wollen. Und wir haben seit vielen Jahren eine klare Strategie. Die basiert auf drei Säulen. Und hier ist nicht nur Produkt, das nachhaltig sein muss, sondern auch Klimaziele, natürlich. Wir haben eine eigene Eisenbahn, die Verkaufsstellen versorgt, und dann natürlich auch die Gesellschaft und die Mitarbeitenden, die entscheidend sind. Dieser Ausgleich vom Produkt über das Klima bis zum Mensch, das finde ich schon ganz toll und das macht große Freude.

    Rainer Münch: Wie würdest du denn deine persönliche Werteorientierung beschreiben? Was ist dir persönlich auch wichtig im Leben an Werten?

    Philipp Wyss: Ja, ganz viel natürlich und sehr unterschiedlich. Aber eines steht im Mittelpunkt: der Mensch. Unsere Mitarbeitenden. Sie machen den großen Unterschied aus. Daran glaube ich ganz fest und wir sind ja ein Unternehmen mit vielen Menschen, mit vielen Mitarbeitenden. Und deshalb ist enorm wichtig, dass wir hier wirklich auch Sorge dazu tragen, fair sind. Hart aber fair, sage ich immer, ist mein Motto.

    Rainer Münch: Wo kommt dieser starke Menschenbezug bei dir her? Ist das etwas, was du irgendwie in der Kindheit aufgenommen hast? Was dir weitergegeben wurde? Hat sich das im Lauf der Zeit erst entwickelt?

    Philipp Wyss: Nein, wie gesagt, ich verbrachte ja meine Jugendzeit in der Turnhalle, sieben Tage. Meinen Vater habe ich nur dort gesehen. Und ich glaube schon, das hat mich geprägt. Ich habe sehr früh Verantwortung übernommen, habe mit 14 schon diverse Sachen geleitet, mit 18 große Skilager schon geleitet, und das hat mich schon sehr geprägt. Also diese Zeit vor 20 denke ich, ist entscheidend. Und das ist übrigens immer meine erste Frage, wenn ich Menschen einstelle bei uns: Was hast du gemacht zwischen 14 und 20? Weil ich glaube, dort entscheidet sich viel im Leben.

    Rainer Münch: Jetzt hatte ich dich gebeten, einen Wertegegenstand mitzubringen. Und es sind keine Sportschuhe oder auch kein Sprungseil, sondern es ist ein Haus. Das ist vielleicht so 30 Zentimeter hoch. Es ist gebastelt aus Papier. Es ist oben orange, dann in der Mitte mit einem Block gelb und unten wird es dann blau. Was ist das für ein Haus und warum hast du es mitgebracht?

    Philipp Wyss: Da bin ich enorm stolz. Das war unsere erste Handlung. Als ich neuer CEO wurde, kriegte ich den Auftrag, jetzt wirklich Coop – zusammen mit dem Verwaltungsrat natürlich – ein wenig zu modernisieren, sagen, wo sind unsere Strategien, was sind unsere Ziele für die nächsten 20 Jahre? Und so haben wir eigentlich dieses Haus gemacht und ein Haus natürlich wunderbar mit einem starken Fundament, mit Werten, Kundenorientierung, Unternehmertum und verantwortungsvoll. Darüber: Wie wollen wir zusammenarbeiten? Also Führungsgrundsätze, fünf, ganz einfach. Dann einen strategischen Rahmen. Da geht es darum, dass der Verwaltungsrat für all unsere Firmen Vorgaben macht. Und hier haben wir drei Vorgaben, nämlich soziale und ökologische Nachhaltigkeit. Dann der technologische Rahmen, Digitalisierung und natürlich auch Rentabilität. Und darüber aufbauend haben wir dann die Strategie für jedes Unternehmen, ob es ein kleines Tropenhaus ist oder eine große Bell-Food-Gruppe – ok.

    Rainer Münch: Jetzt gibt es viele Führungskräfte, die haben in ihrer Karriere auch schon Strategiehäuser gebaut und die kamen und gingen. Was ist dein Ansatz, wie du sicherstellst und sicherstellen möchtest, dass dieses Haus auch im Alltag der Coop-Mitarbeitenden ankommt und zu Verhaltensveränderungen und Entwicklung führt?

    Philipp Wyss: Wichtig ist: einmal ist keinmal. Und deshalb haben wir an den Zielsetzungsprozessen, die wir ja ganz von top oben, von der Geschäftsleitung bis zum Geschäftsführer runter machen, bis nach Rumänien und Spanien, behandeln wir dies jedes Jahr. Wie gehen da die Ziele durch. Gehen dort natürlich auch die Werte durch. Versuchen zu erklären, was steht dahinter: Unternehmertum? Was steht dahinter: Kundenorientierung? Ich bin Vorbild: Was heißt das? Machen Übungen dazu. Und so hoffe ich doch, dass wir über drei, vier Jahre das Haus auch sichtbar für unsere Kundinnen und Kunden und für unsere Mitarbeitenden so positionieren können.

    Rainer Münch: Ist es für dich auch ein wichtiger Dialog mit den Mitarbeitenden, den du führst über die Werte, und dass du sozusagen das auch in deinen Begegnungen entsprechend thematisierst?

    Philipp Wyss: Absolut. Also wie gesagt, ich bin Vorbild, also das ist so wichtig und das liegt mir extrem am Herzen, dass das wirklich auch gelebt wird, insbesondere von unseren Führungskräften. Also das hat wirklich auch viel damit zu tun, dass man im Alltag das Haus auch wirklich brauchen kann.

    Rainer Münch: Jetzt kann ich mir vorstellen, dass in jedem Baustein von diesem Haus viel Herzblut steckt, auch von dir viel Herzblut steckt. Gibt es trotzdem die eine oder andere Facette, die für dich besonders wichtig ist, mit der du dich besonders verbunden fühlst?

    Philipp Wyss: Ich würde sagen: ganz oben und ganz unten. Wie gesagt, ein Fundament braucht klare Werte für ein Unternehmen. Und hier haben wir wirklich diese drei wichtigen Werte: der Kundenfokus, das Unternehmertum und dann die Verantwortung zu übernehmen für Mensch, Tier und Umwelt. Und das ist sicher ganz wichtig. Und oben natürlich auch unsere Vision, wo wir hinwollen. Also wir wollen Leader werden im Detailhandel Schweiz. Das sind wir noch nicht. Wir wollen führend sein in der europäischen Gastronomieversorgung und schlussendlich dann führend in der vertikalisierten Produktion. Und das sind sicher ganz, ganz wichtige, auch langfristige Ziele.

    Rainer Münch: Du bist in deiner Rolle als Vorsitzender der Geschäftsleitung natürlich sozusagen immer erreichbar und immer dabei, aber nicht 24 Stunden am Arbeiten am Tag. Wie finden diese Werte für dich denn im Privaten statt? Was ist dir da wichtig und was ist da die Übertragung?

    Philipp Wyss: Das ist mir natürlich enorm wichtig, dass ich auch natürlich diese Werte auch privat leben kann und insbesondere natürlich auch, egal welche, ob Kunde oder ob Unternehmertum oder dann natürlich auch die Verantwortung zu übernehmen, liegt mir enorm am Herzen. Und das versuche ich natürlich nicht nur im Geschäft, sondern auch privat wirklich an den Tag zu legen.

    Rainer Münch: Jetzt ist ja diese Werteorientierung manchmal auch herausfordernd. Und da habe ich auch eine moralische Frage mitgebracht, in deiner Rolle als Coop-Verantwortlicher, denn letzten Endes ist Coop auch ein Unternehmen und auch hier liest man immer wieder von Rationalisierungsmaßnahmen, die dann auch Veränderungen für Mitarbeitende nach sich ziehen. Man liest von einer strengen Politik, was das Thema Homeoffice-Regelung angeht oder auch mal von harten Auseinandersetzungen mit Lieferanten bis hin zum Bestellstopp oder auch der Einführung von Ersatzprodukten. Stößt in solchen Fällen die Werteorientierung von Coop an ihre Grenzen?

    Philipp Wyss: Nein, überhaupt nicht. Ich glaube, es braucht klare Ansagen, klare Ziele. Und wenn man sich innerhalb von diesen Feldern bewegt, dann sehe ich da überhaupt keinen Widerspruch. Und ich sage mal, wenn wir das Thema Homeoffice nehmen: Da sehe ich keinen Widerspruch. Von unseren 96.000 Leuten können 90.000 Leute – Mitarbeitende – kein Homeoffice machen. Und so war mein Anspruch natürlich auch: Wir sind fair zu allen und es können nicht alle dann sieben Tage Homeoffice machen. So ein Tag genügt. Und ich glaube, mit dieser klaren Regelung sind wir sehr gut gefahren und es wäre schlimmer gewesen, drei Tage zu geben und wieder zurückzukrebsen auf einen Tag. Also: Ich glaube auch hier, Disziplin ist uns sehr wichtig und da sind natürlich auch die Lieferanten wichtig, weil auch hier, wir brauchen einfach auch Fortschritte in den Preisen. Wir haben Nachteile in der Schweiz zum EU-Raum und wir müssen kämpfen als kleine Schweiz für bessere Preise und da wollen wir auch klar sein und hart sein. Und wenn dann ein Ben’s Reis fast sechs Schweizer Franken kostet und der Preiseinstieg bei uns 1,50. Da muss ich schon sagen: Gleiche Qualität – was soll das? Den können wir auslisten.

    Rainer Münch: Wie erlebst du da die Lieferanten? Erlebst du da mitunter auch Verständnis im persönlichen Gespräch für die Situation, die ja vollkommen nachvollziehbar ist? Oder ist es dann doch so weit weg, wie das gesteuert wird, dass es dann sehr unpersönlich wird in der Auseinandersetzung?

    Philipp Wyss: Nein, also ich glaube, im Großen und Ganzen haben wir sehr gute Kontakte mit allen Lieferanten. Es sind ja die Ausnahmen, die dann wirklich hoch poppen. Aber grundsätzlich sind wir ein verlässlicher Partner. Ich bin froh, dass wir so starke Marken haben in der Schweiz. Das ist für uns wichtig. Wir sind der Markenverkäufer in der Schweiz. Aber dass man zwischendurch auch kämpfen muss, auch für unsere Kundinnen und Kunden als Genossenschaft, ist ja klar.

    Rainer Münch: Jetzt sprechen wir über Purpose vs Profit und dieses Spannungsfeld, was mal ausgeprägter ist, mal weniger ausgeprägt. Fällt Dir eine Situation ein, wo du schweren Herzens auch mal dich für den Profit und gegen den Purpose entscheiden musstest und eine Entscheidung treffen musstest, die sozusagen aus Wertegesichtspunkten schwergefallen ist, aber einfach für das Unternehmen wichtig war?

    Philipp Wyss: Ja, ich glaube, die muss man ja als Unternehmer immer wieder machen und manchmal sind sie kleiner, manchmal größer. Das gehört dazu zum Unternehmertum. Aber man muss immer dann auch es sauber machen, mit Anstand machen, sage ich als Genossenschaft sowieso, egal in welchem Bereich, oder auch in Sachen Lieferanten, nützt ja nichts, wenn der Bioartikel schön ist und gut ist, aber niemand kauft es, dann muss man es wieder auslisten. Das tut mir dann weh für den Geschäftspartner vielleicht, aber da muss man einfach durch – aber sauber machen und immer fair.

    Rainer Münch: Fällt dir eine Situation ein, wo dir das besonders schwergefallen ist, was dich besonders bewegt hat in dem Moment, wo du gesagt hast: Mensch, das ist jetzt echt eine harte Entscheidung?

    Philipp Wyss: Nein, ich glaube, es gehört wirklich zum Unternehmertum, dass man sich dem wirklich täglich stellen muss, weil es gehört einfach dazu, dass man natürlich an der Rentabilität wirklich auch arbeitet und wenn man mehr Kosten hat, mehr Kosten für Saläre ausgibt, für Personalkosten, muss auf irgendeine andere Art, das auch wieder kompensiert werden.

    Rainer Münch: Landen bei dir da auf dem Schreibtisch manchmal Schicksale, dass dann auch Mitarbeitende von Entscheidungen betroffen sind und die dann eben auch sagen, was das für sie persönlich bedeutet und die das dann auch an dich eskalieren? Oder ist das in der Regel durch die Kommunikation von vorneherein schon so eingeordnet, dass es dazu nicht kommt – in Anführungszeichen?

    Philipp Wyss: Im Großen und Ganzen sind das wirklich nur Ausnahmen und Einzelfälle, weil wir ja versuchen, das auch gut zu machen. Und wir entlassen nicht einfach Leute, sondern haben immer in den letzten 20 Jahren die Leute mitgenommen, haben ihnen einen anderen Job angeboten, und das sind dann wirklich nur die Ausnahmefälle, die bei mir landen.

    Rainer Münch: Mal von den Mitarbeitenden noch mal zu den Kundinnen und Kunden Was landet da so bei dir? Was landet bei dir an Feedback, an Rückmeldungen von den Kundinnen und Kunden zu Coop?

    Philipp Wyss: Sehr viel und ganz unterschiedlich. Als Beispiel, als die Hauptkonkurrenz gesagt hat: Wir machen die Knospe, Bio-Knospe ist ja das beste Bio in Europa, nur noch im Inland, nicht mehr im Ausland. Da haben mir viele Kundinnen und Kunden geschrieben und gesagt: Hoffentlich machen sie Service dann anders als die Coop. Wir schätzen diese Produkte, wenn sie auch mit der Knospe aus dem Ausland kommen. Und das ist ein typischer Fall. Dann natürlich bei Umbauten gibt es immer wieder Themen, obwohl wir viel da natürlich in Marktforschung hineinstecken. Aber die Leute sagen: Ja, ich finde dann mein Produkt nicht mehr oder das gibt es nicht mehr, ich möchte lieber etwas anderes. Also viele kleine Sachen – bis natürlich auch andere Sachen und wo der Kunde sich dann vielleicht ja sagte: Ist Coop wirklich so günstig wie ihr immer sagt oder was ist da los? Und: sehr unterschiedlich.

    Rainer Münch: Bewegt dich das, wenn dich Kunden-Feedbacks erreichen? Wo du dich dann auch wirklich freuen kannst und sagen kannst: Das war jetzt wirklich mal ein tolles Feedback, da freue ich mich. Oder auch wo dich ärgerst und sagst, das sollte uns nicht passieren?

    Philipp Wyss: Sowohl als auch. Und wir haben ja uns zum Ziel gesetzt, nicht nur immer zu schreiben, sondern auch ein Geschäftsleitungsmitglied mal telefoniert. Und ich kann dir sagen, das ist die beste Taktik, egal ob Freude oder Ärger, mal anzurufen. Auch ich habe das schon gemacht, zu sagen „Hallo, hier ist der Philipp Wyss, Chef von Coop. Dann ist meistens das Mikrophon auf der anderen Seite oder das Telefon kurz still und das tut gut. Und ich denke, wir müssen wirklich auch hier als Händler das händlerisch lösen.

    Rainer Münch: Das beschäftigt ja viele Führungskräfte, dieser Kundenfokus: Wie kann ich möglichst nah ran an die Kunden? Ich glaube, über die letzten Jahre hat sich Coop da wirklich sehr gut entwickelt und auch als Detailhändler positioniert, der nah dran ist an den Kunden. Was ist da dein Tipp an Führungskräfte? Wie kann ich diese Kundenorientierung entwickeln, stärken für mich selbst, aber eben auch für meine Führungscrew?

    Philipp Wyss: Ganz einfach. Das Wichtigste ist, sich die Frage zu stellen: Was bringt es den Kundinnen oder Kunden? Und das ist die wichtigste Frage, die man sich bei jedem Produkt, bei jeder Innovation, bei jedem Projekt stellen muss. Wir haben dann noch zwei andere spannende Fragen. Immer auch zu unseren Werten, nämlich: Würde ich es mit meinem eigenen Geld auch machen? Und dann kann ich mit gutem Gewissen am Abend nach dieser Entscheidung auch in den Spiegel schauen. Und ich denke, das sind so wirklich ganz einfache Fragen, die einem helfen, einmal wirklich auch zu sagen: Stopp, machen wir nicht.

    Rainer Münch: Du hast vorher angesprochen: Fast 100.000 Mitarbeitende über Europa verstreut. Es ist ja auch eine Herausforderung, die viele Führungskräfte haben, zu sagen das mit dem Vorleben und mit den Grundsätzen bekomme ich hin in meinem unmittelbaren Umfeld. Aber: Was ist dein Rezept, damit es bis nach Rumänien kommt, damit es bis in die kleinste Verkaufsstelle im Tessin in den Bergen irgendwie auch kommt, dieses Denken, diese Haltung?

    Philipp Wyss: Ich glaube, für uns sind zwei Punkte enorm wichtig in der ganzen Coop Gruppe: Die eine Sicht ist wirklich Nähe. Nähe auch zu unseren Mitarbeitenden. Ich sage ja immer, ich brauche kein Büro, ich bin lieber draußen bei den Leuten. Ich glaube, wir sind enorm viel auf der Fläche und eben nicht im Büro. Das macht es auch aus und da wollen wir auch sein, nahe zu spüren, was unsere Mitarbeitenden oder dann die Kunden bewegt. Und das Zweite, für das stehe ich wirklich da, wirklich eine breite Führung. Nur fünf, sechs Leute zu führen, ist nichts. Breit! 10, 12, 15, da bin ich überzeugt, dann geht man auch in die Details, hat diese ganze Breite in allen Diskussionen, und das glaube ich, macht den Unterschied aus in der Coop Gruppe.

    Rainer Münch: Da hake ich jetzt gerne mal ein, weil dieses Thema Führungsspanne ist natürlich auch viel diskutiert in Unternehmen. Führungskräfte machen sich Gedanken dazu. Du plädiert jetzt für eine sehr große Führungsspanne, sagst zugleich, dass es dann auch darum geht, in die Tiefe zu gehen. Ist es nicht ein Widerspruch, zu sagen ich habe eigentlich, ich sage jetzt mal 15 Leute, die ich steuere, und dann soll ich auch noch in die Tiefe gehen. Wie gelingt mir das?

    Philipp Wyss: Nein, überhaupt nicht. Es ist klar, man braucht dann wirklich auch Leidenschaft und Herzblut für die Details. Man muss wirklich danach mal in den Läden sich um Beleuchtung kümmern, wenn man nicht zufrieden ist und sagen, wie man es haben will, wie die Einrichtung sein muss, mal etwas herumschieben. Und ich glaube einfach, auch hier: Entweder macht man es mit Überzeugung oder man macht es nicht. Und ich möchte nicht 30-seitige Konzepte haben. Ich möchte hier wirklich als Unternehmer und als Händler die Sachen vor Ort erkennen, wissen und dann auch sagen: Ja, die Richtung stimmt. Also ich glaube, es ist möglich eine breite Führung zu haben und trotzdem sehr detailliert in der Tiefe arbeiten zu können. 

    Rainer Münch: Bei Coop ist es ja, so wie es viele dann lösen, ist es zu sagen, ich habe vielleicht 15, für die ich verantwortlich bin, aber ich sage jetzt mal zehn von denen, die laufen selbstständig, die brauchen relativ wenig Betreuung und dafür konzentriere ich mich deutlich stärker auf die fünf. Und durch diese Akzentuierung gelingt es dann auch besser, in die Tiefe zu kommen, als wenn ich versuchen würde, alle 15 irgendwie gleichmäßig zu betreuen, egal ob das nun Führungskräfte sind, die ich betreue, oder Mitarbeitende oder eben Verkaufsstellen und Verkäufer.

    Philipp Wyss: Das ist so. Das ist wie zu Hause mit den Kindern, sie sind nicht immer alle gleich aufwändig in der Betreuung. Und das ist genau ein wichtiger Punkt natürlich in der Führung, dass man dort in die Tiefe geht, wo es wirklich was braucht, wo man neue Konzepte hat, wo man Probleme hat und die ein andermal auch die Freiheit ihnen gibt, die Verantwortung, die Kompetenz, die Aufgaben übergibt. Und das gehört ja auch zur Wertschätzung und zum Unternehmertum oder dann auch natürlich zum verantwortungsvollen Umgang mit unseren Mitarbeitenden.

    Rainer Münch: Ein schöner Vergleich mit der Kindererziehung. Da ist es in der Tat auch so, dass die Aufmerksamkeit sehr unterschiedlich verteilt wird, und verteilt werden muss mitunter. Ich hatte dich ja auch gebeten, dich ein bisschen mit dem Fragebogen von Max Frisch noch zu beschäftigen und eine Frage mitzubringen von ihm. Und du hast dich entschieden für: Wie viel Heimat brauchen sie? Und da interessiert mich zum einen deine Antwort, aber zum anderen auch, warum du dich für diese Frage entschieden hast.

    Philipp Wyss: Ich denke, es hat etwas zu tun mit der Lebenserfahrung, warum ich eben die Heimat gewählt habe. Ich denke, wenn man jung ist, möchte man die ganze Welt – viele möchten die ganze Welt sehen, möchten viel verändern, glauben, dass viel anders und besser ist auf dieser Welt. Wenn man dann ein wenig zurückkommt, in die Tiefe geht, zurück zu den Wurzeln, lernt man auf einmal schon auch wieder Themen kennen, die sagen: Ja, Heimat ist eben wichtig, da komme ich her, da habe ich viel gelernt. Heimat muss man auch beschützen. Ich nehme unsere Alpen, mit unseren Kühen. Und was soll dann das, wenn man keine Kühe mehr hat auf der Alp oben? Und deshalb glaube ich, Heimat prägt einen enorm und wir müssen schauen, dass wir eben einfach bleiben, eine mündige Gesellschaft bleiben, nicht alles totregulieren durch neue Gesetze und deshalb: Heimatwurzeln, das alles mitzunehmen, finde ich enorm wichtig, auch für die Zukunft.

    Rainer Münch: Was ist für dich Heimat? Ist Heimat für dich ein Ort? Ist es ein Haus? Sind es die Menschen? Ist es die Natur? Ist es ein Kanton? Ist es ein Land? Was ist deine Heimat?

    Philipp Wyss: Die Heimat für mich im Grundsatz ist natürlich die Schweiz, sind die Alpen, sind die Berge, sind meine lieben Kühe da oben überall, aber natürlich auch meine Umgebung, meine Familie. Von wo komme ich? Was habe ich gemacht? Das gehört alles dazu, wirklich in der ganzen Breite.

    Rainer Münch: Wie würdest du deinen Bezug zur Natur beschreiben? Wie ist es für dich, auch wenn du in der Natur unterwegs bist und am Berg wandern bist, was löst es aus oder was passiert da?

    Philipp Wyss: Es gibt nichts Schöneres, ob im Schnee zu laufen oder im Sommer auf die Berge zu gehen. Ich tanke da enorm viel Kraft von der Natur und deshalb müssen wir auch Sorge tragen zu ihr.

    Rainer Münch: Und ist es so, dass du dann die Ruhe hast, um einfach auch nachzudenken und wo du dann sozusagen auch Dinge entwickelst und Ideen hast? Oder ist es eher so, dass du dann abschalten kannst und in der Natur versinkst und die Natur beobachtest und sozusagen mit den Gedanken eben gerade nicht bei der Arbeit ist?

    Philipp Wyss: Da habe ich zwei Rhythmen. Einmal, wenn ich ein Problem habe und das kommt öfters vor, dann gehe ich am liebsten joggen. Und dann gehe ich joggen, um einen kleinen See herum. Einfach monoton, muss mich nicht auf den Weg konzentrieren, rundherum. Und garantiert nach einer halben Stunde oder Stunde ist das Problem gelöst. Wenn ich dann wirklich nur genießen und abschalten will, dann gehe ich lieber ein wenig hoch und tief, über Berge, Hügel, da ist dann mehr Abwechslung.

    Rainer Münch: Und die schweren Probleme kriegen dann mehr Runden, oder?

    Philipp Wyss: Genau. So ist es.

    Rainer Münch: Solange, bis es gelöst ist. Ist es etwas, was du auch an deine Kinder weitergegeben hast? Dieser Heimatbezug und dieses Wohlfühlen in der Natur, in den Bergen?

    Philipp Wyss: Ich bin froh, dass alle gerne in die Berge gehen, alle Sport treiben. Aber es ist klar, die haben auch den Drang, da überall hinzugehen. Meine älteste Tochter kann jetzt gerade mit der Uni natürlich in die Antarktis gehen. Das finde ich auch toll. Untersuchungen machen dort über Wasser mit Plastik. Wie sieht das dort aus? Also ich verstehe den Drang der Jungen natürlich auch rauszugehen, etwas zu erleben und ich glaube, das gehört eben auch dazu, zum Leben.

    Rainer Münch: Vielen Dank Philipp für diese Reflektionen unter der Überschrift Purpose vs Profit. Ich denke, du hast ganz viele Beispiele und Perspektiven mitgebracht, wie sich das vereinbaren lässt. Gerade am Beispiel von Coop eben mit einer starken Werteorientierung, viel Nachhaltigkeit und trotzdem unternehmerisch eben auch die harten Entscheidungen zu treffen. Du hast gesagt: „hart aber fair“ als Motto und damit möchte ich mich herzlich bei Dir bedanken, dass du heute bei Purpose vs Profit bei mir zu Gast warst. Es hat mir große Freude gemacht.

    Philipp Wyss: Danke Rainer, mir auch. Besten Dank.

    Philipp Wyss ist Vorsitzender der Geschäftsleitung der Coop Gruppe. Sein Motto ist „hart aber fair“. Er agiert mit Leidenschaft und Herzblut und beschreibt seine grundsätzliche Haltung mit: entweder macht man etwas mit Überzeugung oder man macht es nicht.

    Drei Werte sind Philipp Wyss besonders wichtig: Kundenfokus, Unternehmertum sowie Verantwortung übernehmen für Mensch, Tier und Umwelt. Das Wichtigste ist aus seiner Sicht die Frage: Was bringt das den Kundinnen und Kunden? Diese Frage muss man sich bei jedem Produkt, jeder Innovation und jedem Projekt stellen sowie ergänzen durch: Würde ich das mit meinem eigenen Geld auch machen?

    Philipp Wyss sagt von sich selbst, dass er kein Büro braucht und lieber draußen bei den Menschen vor Ort ist. Zudem ist ihm Heimat sehr wichtig: Dort kommt man her, dort hat man viel gelernt, und man muss Heimat auch beschützen.

    Das Gespräch wurde aufgezeichnet am 10. Dezember 2024.

    Den Podcast gibt es hier:  Apple Podcasts | Spotify | Youtube

    Rainer Münch: Heute ist Philipp Wyss zu Gast. Er ist Vorsitzender der Geschäftsleitung der Coop Gruppe Genossenschaft, die im Schweizer Detailhandel sowie im europäischen Großhandel tätig ist. Nach Kaufmanns- und Metzgerlehre war er zunächst für einige Jahre bei der Migros beschäftigt, bevor er 1997 zur Coop wechselte. Dort ging es dann über verschiedene Stationen in Einkauf, Category Management und Verkauf bis ganz nach oben. Philipp ist verheiratet, Vater von drei erwachsenen Kindern, begeisterter Hobbykoch und leidenschaftlich gerne in den Schweizer Bergen. Lieber Philipp, ich freue mich, dass du heute bei Purpose vs Profit zu Gast bist. 

    Philipp Wyss: Danke Rainer, freue mich auch. 

    Rainer Münch: Philipp, zum Einstieg sprechen wir über Handel, über Coop. Ich persönlich kenne wenige Menschen, die so viel Leidenschaft für den Handel vermitteln wie du. War das bei dir schon immer so und in die Wiege gelegt oder hat sich das während deines Berufslebens entwickelt?

    Philipp Wyss: Nein, ich glaube, das hat sich enorm entwickelt. Aber eines hatte ich natürlich immer: Leidenschaft. Egal, was man macht. Ich machte ja früher enorm viel Sport, unterschiedliche Sachen. Und die Leidenschaft und das Herzblut, denke ich, das ist einfach das Wichtigste. Und: Ja, Handel kam dann ein wenig dazu, ich war dann in einer Großmetzgerei, fand das toll, aber so richtig hat es mich dann erst wirklich im Retail gepackt bei der Konkurrenz und dann vor allem bei Coop.

    Rainer Münch: Du sprichst es an, bei der Konkurrenz hattest du begonnen, sozusagen im Detailhandel. Jetzt spricht man in der Schweiz ja gerne davon, dass es die Migros- und die Coop-Kinder gibt. Und so ein Wechsel ist ja schon ein relativ großer Schritt in der Schweiz. Wie kam es dazu?

    Philipp Wyss: Ja, der war sehr gut überlegt. Ich hatte damals natürlich junge Chefs, wollte auch mit Leidenschaft weiterkommen und hatte dann die Möglichkeit, zu Coop zu wechseln, kannte da ein paar Leute von früher her und nahm dann die Chance wirklich wahr.

    Rainer Münch: Ja, du hast es ja auch nicht bereut.

    Philipp Wyss: Nee, nee, ganz sicher nicht.

    Rainer Münch: Jetzt ist Coop im europäischen Handel ganz klar ein Vorreiter in punkto Nachhaltigkeit und auch in punkto Werteorientierung und daher natürlich auch ein toller Anknüpfungspunkt für unser Gespräch. Was bedeutet dir das persönlich, dass Coop dafür auch steht und einsteht?

    Philipp Wyss: Ja, Coop ist ja Genossenschaft und seit 1973 steht es auch in den Statuten von Coop, dass wir nachhaltig wirtschaften wollen. Und wir haben seit vielen Jahren eine klare Strategie. Die basiert auf drei Säulen. Und hier ist nicht nur Produkt, das nachhaltig sein muss, sondern auch Klimaziele, natürlich. Wir haben eine eigene Eisenbahn, die Verkaufsstellen versorgt, und dann natürlich auch die Gesellschaft und die Mitarbeitenden, die entscheidend sind. Dieser Ausgleich vom Produkt über das Klima bis zum Mensch, das finde ich schon ganz toll und das macht große Freude.

    Rainer Münch: Wie würdest du denn deine persönliche Werteorientierung beschreiben? Was ist dir persönlich auch wichtig im Leben an Werten?

    Philipp Wyss: Ja, ganz viel natürlich und sehr unterschiedlich. Aber eines steht im Mittelpunkt: der Mensch. Unsere Mitarbeitenden. Sie machen den großen Unterschied aus. Daran glaube ich ganz fest und wir sind ja ein Unternehmen mit vielen Menschen, mit vielen Mitarbeitenden. Und deshalb ist enorm wichtig, dass wir hier wirklich auch Sorge dazu tragen, fair sind. Hart aber fair, sage ich immer, ist mein Motto.

    Rainer Münch: Wo kommt dieser starke Menschenbezug bei dir her? Ist das etwas, was du irgendwie in der Kindheit aufgenommen hast? Was dir weitergegeben wurde? Hat sich das im Lauf der Zeit erst entwickelt?

    Philipp Wyss: Nein, wie gesagt, ich verbrachte ja meine Jugendzeit in der Turnhalle, sieben Tage. Meinen Vater habe ich nur dort gesehen. Und ich glaube schon, das hat mich geprägt. Ich habe sehr früh Verantwortung übernommen, habe mit 14 schon diverse Sachen geleitet, mit 18 große Skilager schon geleitet, und das hat mich schon sehr geprägt. Also diese Zeit vor 20 denke ich, ist entscheidend. Und das ist übrigens immer meine erste Frage, wenn ich Menschen einstelle bei uns: Was hast du gemacht zwischen 14 und 20? Weil ich glaube, dort entscheidet sich viel im Leben.

    Rainer Münch: Jetzt hatte ich dich gebeten, einen Wertegegenstand mitzubringen. Und es sind keine Sportschuhe oder auch kein Sprungseil, sondern es ist ein Haus. Das ist vielleicht so 30 Zentimeter hoch. Es ist gebastelt aus Papier. Es ist oben orange, dann in der Mitte mit einem Block gelb und unten wird es dann blau. Was ist das für ein Haus und warum hast du es mitgebracht?

    Philipp Wyss: Da bin ich enorm stolz. Das war unsere erste Handlung. Als ich neuer CEO wurde, kriegte ich den Auftrag, jetzt wirklich Coop – zusammen mit dem Verwaltungsrat natürlich – ein wenig zu modernisieren, sagen, wo sind unsere Strategien, was sind unsere Ziele für die nächsten 20 Jahre? Und so haben wir eigentlich dieses Haus gemacht und ein Haus natürlich wunderbar mit einem starken Fundament, mit Werten, Kundenorientierung, Unternehmertum und verantwortungsvoll. Darüber: Wie wollen wir zusammenarbeiten? Also Führungsgrundsätze, fünf, ganz einfach. Dann einen strategischen Rahmen. Da geht es darum, dass der Verwaltungsrat für all unsere Firmen Vorgaben macht. Und hier haben wir drei Vorgaben, nämlich soziale und ökologische Nachhaltigkeit. Dann der technologische Rahmen, Digitalisierung und natürlich auch Rentabilität. Und darüber aufbauend haben wir dann die Strategie für jedes Unternehmen, ob es ein kleines Tropenhaus ist oder eine große Bell-Food-Gruppe – ok.

    Rainer Münch: Jetzt gibt es viele Führungskräfte, die haben in ihrer Karriere auch schon Strategiehäuser gebaut und die kamen und gingen. Was ist dein Ansatz, wie du sicherstellst und sicherstellen möchtest, dass dieses Haus auch im Alltag der Coop-Mitarbeitenden ankommt und zu Verhaltensveränderungen und Entwicklung führt?

    Philipp Wyss: Wichtig ist: einmal ist keinmal. Und deshalb haben wir an den Zielsetzungsprozessen, die wir ja ganz von top oben, von der Geschäftsleitung bis zum Geschäftsführer runter machen, bis nach Rumänien und Spanien, behandeln wir dies jedes Jahr. Wie gehen da die Ziele durch. Gehen dort natürlich auch die Werte durch. Versuchen zu erklären, was steht dahinter: Unternehmertum? Was steht dahinter: Kundenorientierung? Ich bin Vorbild: Was heißt das? Machen Übungen dazu. Und so hoffe ich doch, dass wir über drei, vier Jahre das Haus auch sichtbar für unsere Kundinnen und Kunden und für unsere Mitarbeitenden so positionieren können.

    Rainer Münch: Ist es für dich auch ein wichtiger Dialog mit den Mitarbeitenden, den du führst über die Werte, und dass du sozusagen das auch in deinen Begegnungen entsprechend thematisierst?

    Philipp Wyss: Absolut. Also wie gesagt, ich bin Vorbild, also das ist so wichtig und das liegt mir extrem am Herzen, dass das wirklich auch gelebt wird, insbesondere von unseren Führungskräften. Also das hat wirklich auch viel damit zu tun, dass man im Alltag das Haus auch wirklich brauchen kann.

    Rainer Münch: Jetzt kann ich mir vorstellen, dass in jedem Baustein von diesem Haus viel Herzblut steckt, auch von dir viel Herzblut steckt. Gibt es trotzdem die eine oder andere Facette, die für dich besonders wichtig ist, mit der du dich besonders verbunden fühlst?

    Philipp Wyss: Ich würde sagen: ganz oben und ganz unten. Wie gesagt, ein Fundament braucht klare Werte für ein Unternehmen. Und hier haben wir wirklich diese drei wichtigen Werte: der Kundenfokus, das Unternehmertum und dann die Verantwortung zu übernehmen für Mensch, Tier und Umwelt. Und das ist sicher ganz wichtig. Und oben natürlich auch unsere Vision, wo wir hinwollen. Also wir wollen Leader werden im Detailhandel Schweiz. Das sind wir noch nicht. Wir wollen führend sein in der europäischen Gastronomieversorgung und schlussendlich dann führend in der vertikalisierten Produktion. Und das sind sicher ganz, ganz wichtige, auch langfristige Ziele.

    Rainer Münch: Du bist in deiner Rolle als Vorsitzender der Geschäftsleitung natürlich sozusagen immer erreichbar und immer dabei, aber nicht 24 Stunden am Arbeiten am Tag. Wie finden diese Werte für dich denn im Privaten statt? Was ist dir da wichtig und was ist da die Übertragung?

    Philipp Wyss: Das ist mir natürlich enorm wichtig, dass ich auch natürlich diese Werte auch privat leben kann und insbesondere natürlich auch, egal welche, ob Kunde oder ob Unternehmertum oder dann natürlich auch die Verantwortung zu übernehmen, liegt mir enorm am Herzen. Und das versuche ich natürlich nicht nur im Geschäft, sondern auch privat wirklich an den Tag zu legen.

    Rainer Münch: Jetzt ist ja diese Werteorientierung manchmal auch herausfordernd. Und da habe ich auch eine moralische Frage mitgebracht, in deiner Rolle als Coop-Verantwortlicher, denn letzten Endes ist Coop auch ein Unternehmen und auch hier liest man immer wieder von Rationalisierungsmaßnahmen, die dann auch Veränderungen für Mitarbeitende nach sich ziehen. Man liest von einer strengen Politik, was das Thema Homeoffice-Regelung angeht oder auch mal von harten Auseinandersetzungen mit Lieferanten bis hin zum Bestellstopp oder auch der Einführung von Ersatzprodukten. Stößt in solchen Fällen die Werteorientierung von Coop an ihre Grenzen?

    Philipp Wyss: Nein, überhaupt nicht. Ich glaube, es braucht klare Ansagen, klare Ziele. Und wenn man sich innerhalb von diesen Feldern bewegt, dann sehe ich da überhaupt keinen Widerspruch. Und ich sage mal, wenn wir das Thema Homeoffice nehmen: Da sehe ich keinen Widerspruch. Von unseren 96.000 Leuten können 90.000 Leute – Mitarbeitende – kein Homeoffice machen. Und so war mein Anspruch natürlich auch: Wir sind fair zu allen und es können nicht alle dann sieben Tage Homeoffice machen. So ein Tag genügt. Und ich glaube, mit dieser klaren Regelung sind wir sehr gut gefahren und es wäre schlimmer gewesen, drei Tage zu geben und wieder zurückzukrebsen auf einen Tag. Also: Ich glaube auch hier, Disziplin ist uns sehr wichtig und da sind natürlich auch die Lieferanten wichtig, weil auch hier, wir brauchen einfach auch Fortschritte in den Preisen. Wir haben Nachteile in der Schweiz zum EU-Raum und wir müssen kämpfen als kleine Schweiz für bessere Preise und da wollen wir auch klar sein und hart sein. Und wenn dann ein Ben’s Reis fast sechs Schweizer Franken kostet und der Preiseinstieg bei uns 1,50. Da muss ich schon sagen: Gleiche Qualität – was soll das? Den können wir auslisten.

    Rainer Münch: Wie erlebst du da die Lieferanten? Erlebst du da mitunter auch Verständnis im persönlichen Gespräch für die Situation, die ja vollkommen nachvollziehbar ist? Oder ist es dann doch so weit weg, wie das gesteuert wird, dass es dann sehr unpersönlich wird in der Auseinandersetzung?

    Philipp Wyss: Nein, also ich glaube, im Großen und Ganzen haben wir sehr gute Kontakte mit allen Lieferanten. Es sind ja die Ausnahmen, die dann wirklich hoch poppen. Aber grundsätzlich sind wir ein verlässlicher Partner. Ich bin froh, dass wir so starke Marken haben in der Schweiz. Das ist für uns wichtig. Wir sind der Markenverkäufer in der Schweiz. Aber dass man zwischendurch auch kämpfen muss, auch für unsere Kundinnen und Kunden als Genossenschaft, ist ja klar.

    Rainer Münch: Jetzt sprechen wir über Purpose vs Profit und dieses Spannungsfeld, was mal ausgeprägter ist, mal weniger ausgeprägt. Fällt Dir eine Situation ein, wo du schweren Herzens auch mal dich für den Profit und gegen den Purpose entscheiden musstest und eine Entscheidung treffen musstest, die sozusagen aus Wertegesichtspunkten schwergefallen ist, aber einfach für das Unternehmen wichtig war?

    Philipp Wyss: Ja, ich glaube, die muss man ja als Unternehmer immer wieder machen und manchmal sind sie kleiner, manchmal größer. Das gehört dazu zum Unternehmertum. Aber man muss immer dann auch es sauber machen, mit Anstand machen, sage ich als Genossenschaft sowieso, egal in welchem Bereich, oder auch in Sachen Lieferanten, nützt ja nichts, wenn der Bioartikel schön ist und gut ist, aber niemand kauft es, dann muss man es wieder auslisten. Das tut mir dann weh für den Geschäftspartner vielleicht, aber da muss man einfach durch – aber sauber machen und immer fair.

    Rainer Münch: Fällt dir eine Situation ein, wo dir das besonders schwergefallen ist, was dich besonders bewegt hat in dem Moment, wo du gesagt hast: Mensch, das ist jetzt echt eine harte Entscheidung?

    Philipp Wyss: Nein, ich glaube, es gehört wirklich zum Unternehmertum, dass man sich dem wirklich täglich stellen muss, weil es gehört einfach dazu, dass man natürlich an der Rentabilität wirklich auch arbeitet und wenn man mehr Kosten hat, mehr Kosten für Saläre ausgibt, für Personalkosten, muss auf irgendeine andere Art, das auch wieder kompensiert werden.

    Rainer Münch: Landen bei dir da auf dem Schreibtisch manchmal Schicksale, dass dann auch Mitarbeitende von Entscheidungen betroffen sind und die dann eben auch sagen, was das für sie persönlich bedeutet und die das dann auch an dich eskalieren? Oder ist das in der Regel durch die Kommunikation von vorneherein schon so eingeordnet, dass es dazu nicht kommt – in Anführungszeichen?

    Philipp Wyss: Im Großen und Ganzen sind das wirklich nur Ausnahmen und Einzelfälle, weil wir ja versuchen, das auch gut zu machen. Und wir entlassen nicht einfach Leute, sondern haben immer in den letzten 20 Jahren die Leute mitgenommen, haben ihnen einen anderen Job angeboten, und das sind dann wirklich nur die Ausnahmefälle, die bei mir landen.

    Rainer Münch: Mal von den Mitarbeitenden noch mal zu den Kundinnen und Kunden Was landet da so bei dir? Was landet bei dir an Feedback, an Rückmeldungen von den Kundinnen und Kunden zu Coop?

    Philipp Wyss: Sehr viel und ganz unterschiedlich. Als Beispiel, als die Hauptkonkurrenz gesagt hat: Wir machen die Knospe, Bio-Knospe ist ja das beste Bio in Europa, nur noch im Inland, nicht mehr im Ausland. Da haben mir viele Kundinnen und Kunden geschrieben und gesagt: Hoffentlich machen sie Service dann anders als die Coop. Wir schätzen diese Produkte, wenn sie auch mit der Knospe aus dem Ausland kommen. Und das ist ein typischer Fall. Dann natürlich bei Umbauten gibt es immer wieder Themen, obwohl wir viel da natürlich in Marktforschung hineinstecken. Aber die Leute sagen: Ja, ich finde dann mein Produkt nicht mehr oder das gibt es nicht mehr, ich möchte lieber etwas anderes. Also viele kleine Sachen – bis natürlich auch andere Sachen und wo der Kunde sich dann vielleicht ja sagte: Ist Coop wirklich so günstig wie ihr immer sagt oder was ist da los? Und: sehr unterschiedlich.

    Rainer Münch: Bewegt dich das, wenn dich Kunden-Feedbacks erreichen? Wo du dich dann auch wirklich freuen kannst und sagen kannst: Das war jetzt wirklich mal ein tolles Feedback, da freue ich mich. Oder auch wo dich ärgerst und sagst, das sollte uns nicht passieren?

    Philipp Wyss: Sowohl als auch. Und wir haben ja uns zum Ziel gesetzt, nicht nur immer zu schreiben, sondern auch ein Geschäftsleitungsmitglied mal telefoniert. Und ich kann dir sagen, das ist die beste Taktik, egal ob Freude oder Ärger, mal anzurufen. Auch ich habe das schon gemacht, zu sagen „Hallo, hier ist der Philipp Wyss, Chef von Coop. Dann ist meistens das Mikrophon auf der anderen Seite oder das Telefon kurz still und das tut gut. Und ich denke, wir müssen wirklich auch hier als Händler das händlerisch lösen.

    Rainer Münch: Das beschäftigt ja viele Führungskräfte, dieser Kundenfokus: Wie kann ich möglichst nah ran an die Kunden? Ich glaube, über die letzten Jahre hat sich Coop da wirklich sehr gut entwickelt und auch als Detailhändler positioniert, der nah dran ist an den Kunden. Was ist da dein Tipp an Führungskräfte? Wie kann ich diese Kundenorientierung entwickeln, stärken für mich selbst, aber eben auch für meine Führungscrew?

    Philipp Wyss: Ganz einfach. Das Wichtigste ist, sich die Frage zu stellen: Was bringt es den Kundinnen oder Kunden? Und das ist die wichtigste Frage, die man sich bei jedem Produkt, bei jeder Innovation, bei jedem Projekt stellen muss. Wir haben dann noch zwei andere spannende Fragen. Immer auch zu unseren Werten, nämlich: Würde ich es mit meinem eigenen Geld auch machen? Und dann kann ich mit gutem Gewissen am Abend nach dieser Entscheidung auch in den Spiegel schauen. Und ich denke, das sind so wirklich ganz einfache Fragen, die einem helfen, einmal wirklich auch zu sagen: Stopp, machen wir nicht.

    Rainer Münch: Du hast vorher angesprochen: Fast 100.000 Mitarbeitende über Europa verstreut. Es ist ja auch eine Herausforderung, die viele Führungskräfte haben, zu sagen das mit dem Vorleben und mit den Grundsätzen bekomme ich hin in meinem unmittelbaren Umfeld. Aber: Was ist dein Rezept, damit es bis nach Rumänien kommt, damit es bis in die kleinste Verkaufsstelle im Tessin in den Bergen irgendwie auch kommt, dieses Denken, diese Haltung?

    Philipp Wyss: Ich glaube, für uns sind zwei Punkte enorm wichtig in der ganzen Coop Gruppe: Die eine Sicht ist wirklich Nähe. Nähe auch zu unseren Mitarbeitenden. Ich sage ja immer, ich brauche kein Büro, ich bin lieber draußen bei den Leuten. Ich glaube, wir sind enorm viel auf der Fläche und eben nicht im Büro. Das macht es auch aus und da wollen wir auch sein, nahe zu spüren, was unsere Mitarbeitenden oder dann die Kunden bewegt. Und das Zweite, für das stehe ich wirklich da, wirklich eine breite Führung. Nur fünf, sechs Leute zu führen, ist nichts. Breit! 10, 12, 15, da bin ich überzeugt, dann geht man auch in die Details, hat diese ganze Breite in allen Diskussionen, und das glaube ich, macht den Unterschied aus in der Coop Gruppe.

    Rainer Münch: Da hake ich jetzt gerne mal ein, weil dieses Thema Führungsspanne ist natürlich auch viel diskutiert in Unternehmen. Führungskräfte machen sich Gedanken dazu. Du plädiert jetzt für eine sehr große Führungsspanne, sagst zugleich, dass es dann auch darum geht, in die Tiefe zu gehen. Ist es nicht ein Widerspruch, zu sagen ich habe eigentlich, ich sage jetzt mal 15 Leute, die ich steuere, und dann soll ich auch noch in die Tiefe gehen. Wie gelingt mir das?

    Philipp Wyss: Nein, überhaupt nicht. Es ist klar, man braucht dann wirklich auch Leidenschaft und Herzblut für die Details. Man muss wirklich danach mal in den Läden sich um Beleuchtung kümmern, wenn man nicht zufrieden ist und sagen, wie man es haben will, wie die Einrichtung sein muss, mal etwas herumschieben. Und ich glaube einfach, auch hier: Entweder macht man es mit Überzeugung oder man macht es nicht. Und ich möchte nicht 30-seitige Konzepte haben. Ich möchte hier wirklich als Unternehmer und als Händler die Sachen vor Ort erkennen, wissen und dann auch sagen: Ja, die Richtung stimmt. Also ich glaube, es ist möglich eine breite Führung zu haben und trotzdem sehr detailliert in der Tiefe arbeiten zu können. 

    Rainer Münch: Bei Coop ist es ja, so wie es viele dann lösen, ist es zu sagen, ich habe vielleicht 15, für die ich verantwortlich bin, aber ich sage jetzt mal zehn von denen, die laufen selbstständig, die brauchen relativ wenig Betreuung und dafür konzentriere ich mich deutlich stärker auf die fünf. Und durch diese Akzentuierung gelingt es dann auch besser, in die Tiefe zu kommen, als wenn ich versuchen würde, alle 15 irgendwie gleichmäßig zu betreuen, egal ob das nun Führungskräfte sind, die ich betreue, oder Mitarbeitende oder eben Verkaufsstellen und Verkäufer.

    Philipp Wyss: Das ist so. Das ist wie zu Hause mit den Kindern, sie sind nicht immer alle gleich aufwändig in der Betreuung. Und das ist genau ein wichtiger Punkt natürlich in der Führung, dass man dort in die Tiefe geht, wo es wirklich was braucht, wo man neue Konzepte hat, wo man Probleme hat und die ein andermal auch die Freiheit ihnen gibt, die Verantwortung, die Kompetenz, die Aufgaben übergibt. Und das gehört ja auch zur Wertschätzung und zum Unternehmertum oder dann auch natürlich zum verantwortungsvollen Umgang mit unseren Mitarbeitenden.

    Rainer Münch: Ein schöner Vergleich mit der Kindererziehung. Da ist es in der Tat auch so, dass die Aufmerksamkeit sehr unterschiedlich verteilt wird, und verteilt werden muss mitunter. Ich hatte dich ja auch gebeten, dich ein bisschen mit dem Fragebogen von Max Frisch noch zu beschäftigen und eine Frage mitzubringen von ihm. Und du hast dich entschieden für: Wie viel Heimat brauchen sie? Und da interessiert mich zum einen deine Antwort, aber zum anderen auch, warum du dich für diese Frage entschieden hast.

    Philipp Wyss: Ich denke, es hat etwas zu tun mit der Lebenserfahrung, warum ich eben die Heimat gewählt habe. Ich denke, wenn man jung ist, möchte man die ganze Welt – viele möchten die ganze Welt sehen, möchten viel verändern, glauben, dass viel anders und besser ist auf dieser Welt. Wenn man dann ein wenig zurückkommt, in die Tiefe geht, zurück zu den Wurzeln, lernt man auf einmal schon auch wieder Themen kennen, die sagen: Ja, Heimat ist eben wichtig, da komme ich her, da habe ich viel gelernt. Heimat muss man auch beschützen. Ich nehme unsere Alpen, mit unseren Kühen. Und was soll dann das, wenn man keine Kühe mehr hat auf der Alp oben? Und deshalb glaube ich, Heimat prägt einen enorm und wir müssen schauen, dass wir eben einfach bleiben, eine mündige Gesellschaft bleiben, nicht alles totregulieren durch neue Gesetze und deshalb: Heimatwurzeln, das alles mitzunehmen, finde ich enorm wichtig, auch für die Zukunft.

    Rainer Münch: Was ist für dich Heimat? Ist Heimat für dich ein Ort? Ist es ein Haus? Sind es die Menschen? Ist es die Natur? Ist es ein Kanton? Ist es ein Land? Was ist deine Heimat?

    Philipp Wyss: Die Heimat für mich im Grundsatz ist natürlich die Schweiz, sind die Alpen, sind die Berge, sind meine lieben Kühe da oben überall, aber natürlich auch meine Umgebung, meine Familie. Von wo komme ich? Was habe ich gemacht? Das gehört alles dazu, wirklich in der ganzen Breite.

    Rainer Münch: Wie würdest du deinen Bezug zur Natur beschreiben? Wie ist es für dich, auch wenn du in der Natur unterwegs bist und am Berg wandern bist, was löst es aus oder was passiert da?

    Philipp Wyss: Es gibt nichts Schöneres, ob im Schnee zu laufen oder im Sommer auf die Berge zu gehen. Ich tanke da enorm viel Kraft von der Natur und deshalb müssen wir auch Sorge tragen zu ihr.

    Rainer Münch: Und ist es so, dass du dann die Ruhe hast, um einfach auch nachzudenken und wo du dann sozusagen auch Dinge entwickelst und Ideen hast? Oder ist es eher so, dass du dann abschalten kannst und in der Natur versinkst und die Natur beobachtest und sozusagen mit den Gedanken eben gerade nicht bei der Arbeit ist?

    Philipp Wyss: Da habe ich zwei Rhythmen. Einmal, wenn ich ein Problem habe und das kommt öfters vor, dann gehe ich am liebsten joggen. Und dann gehe ich joggen, um einen kleinen See herum. Einfach monoton, muss mich nicht auf den Weg konzentrieren, rundherum. Und garantiert nach einer halben Stunde oder Stunde ist das Problem gelöst. Wenn ich dann wirklich nur genießen und abschalten will, dann gehe ich lieber ein wenig hoch und tief, über Berge, Hügel, da ist dann mehr Abwechslung.

    Rainer Münch: Und die schweren Probleme kriegen dann mehr Runden, oder?

    Philipp Wyss: Genau. So ist es.

    Rainer Münch: Solange, bis es gelöst ist. Ist es etwas, was du auch an deine Kinder weitergegeben hast? Dieser Heimatbezug und dieses Wohlfühlen in der Natur, in den Bergen?

    Philipp Wyss: Ich bin froh, dass alle gerne in die Berge gehen, alle Sport treiben. Aber es ist klar, die haben auch den Drang, da überall hinzugehen. Meine älteste Tochter kann jetzt gerade mit der Uni natürlich in die Antarktis gehen. Das finde ich auch toll. Untersuchungen machen dort über Wasser mit Plastik. Wie sieht das dort aus? Also ich verstehe den Drang der Jungen natürlich auch rauszugehen, etwas zu erleben und ich glaube, das gehört eben auch dazu, zum Leben.

    Rainer Münch: Vielen Dank Philipp für diese Reflektionen unter der Überschrift Purpose vs Profit. Ich denke, du hast ganz viele Beispiele und Perspektiven mitgebracht, wie sich das vereinbaren lässt. Gerade am Beispiel von Coop eben mit einer starken Werteorientierung, viel Nachhaltigkeit und trotzdem unternehmerisch eben auch die harten Entscheidungen zu treffen. Du hast gesagt: „hart aber fair“ als Motto und damit möchte ich mich herzlich bei Dir bedanken, dass du heute bei Purpose vs Profit bei mir zu Gast warst. Es hat mir große Freude gemacht.

    Philipp Wyss: Danke Rainer, mir auch. Besten Dank.

Autoren
  • Philipp Wyss und
  • Rainer Münch