Die Energiewirtschaft in Deutschland hat in den vergangenen Jahren eine Reihe von grundlegenden Herausforderungen meistern müssen und dabei immer wieder neue Gipfel erklommen. Dazu zählen die Deregulierung, der Kernkraftausstieg, die Energiewende und die Digitalisierung.
Mit der Dekarbonisierung und mit dem Ziel der Klimaneutralität türmt sich vor der Energiewirtschaft nun der nächste 8,000er auf. Es hängt wesentlich vom Handeln der Energiewirtschaft ab, ob Deutschland bis 2045 klimaneutral wird. Denn ihr Anteil am gesamten CO2-Ausstoß des Landes liegt bei 37% (Stand 2019).
Die vorliegende Analyse zeigt, wie weit die Energieversorger in Deutschland auf ihrem Weg zum Gipfel der Klimaneutralität bereits sind und welche Etappen noch vor ihnen liegen. Wir haben dazu den Status quo und die Dekarbonisierungsagenda (inkl. des CO2-Fußabdrucks) ausgewählter Energieversorger untersucht und Unterschiede herausgearbeitet. Die Analyse umfasst die gesamte Wertschöpfungskette und Versorger aus drei Größenklassen – Nationale und überregionale Versorger werden genauso berücksichtigt wie große Regionalversorger und Stadtwerke sowie mittlere und kleine Regionalversorger einschließlich entsprechender Stadtwerke.
Auf dem Weg zum Gipfel der Klimaneutralität: Die Hälfte der Strecke geschafft
Unsere Analyse zeigt: Wenn Klimaneutralität und eine vollständige Dekarbonisierung der Gipfel sind, dann befinden sich Deutschlands Energieversorger derzeit im Base Camp. Rund die Hälfte des Weges ist geschafft.
Allerdings gibt es große Unterschiede zwischen den einzelnen Anbietern. Das zeigt bereits ein Blick auf den Anteil erneuerbarer Energien am Stromabsatz. Einige Player stehen hier mit einem Anteil von lediglich 7% noch ganz am Anfang, andere haben diesen Gipfel bereits mit einem Anteil von 72% erklommen. Im Median liegt diese Größe allerdings nur bei 24%.
Wie groß der Anteil erneuerbarer Energien bei den einzelnen Anbietern ist
Alle Teilnehmer der Studie verfolgen langfristig ambitionierte Ziele. 60% der Teilnehmer nennen ein konkretes Jahr für das Erreichen der Klimaneutralität. 84% wollen hierfür den Anteil Erneuerbarer Energien ausbauen. 76% wollen in E-Mobilität investieren und 40% in die Wasserstoffwirtschaft. Als weitere konkrete Maßnahmen auf dem Weg zur Klimaneutralität nennen 36% den Abbau von fossilen Kraftwerken, 48% die Verbesserung der Energieeffizienz und 24% die Netzoptimierung sowie den Netzausbau.
Wenn diese Ziele und Maßnahmen tatsächlich umgesetzt werden, könnten die Energieversorger bis etwa zum Jahr 2029 ein Niveau von 50% des heutigen Ausstoßes (Scope 1 und 2) erreichen.
Klimaneutralität schon 2023 oder erst 2045?
Auch bei der Festlegung des Zeitpunkts bis zur Klimaneutralität gibt es keine geschlossene Seilschaft. Die einzelnen Player sind vielmehr über den gesamten Berg verteilt. Die ambitioniertesten Unternehmen wollen bereits 2023 am Ziel sein, ihre Ausgangsbasis liegt bei rund 200g CO2/kWh. Ganz unten am Berg stehen dagegen Unternehmen, die erst 2045 klimaneutral sein wollen. Ihr aktuelles Emissionsniveau liegt allerdings auch bei 400g CO2/kWh und müsste demnach rechnerisch um rund 10 bis 15g CO2 pro Jahr sinken. Eine Betrachtung der drei Gruppen zeigt, dass die überregionalen Versorger und großen Regionalversorger in der Regel die ambitionierteren Ziele verfolgen.
Um das Net-Zero-Ziel bei den Emissionen im Jahr 2050 zu erreichen, bräuchte es bei den analysierten Unternehmen eine weitere Reduktion um jährlich etwa 170 Mio. t CO2 – und das in der Branche selbst sowie in ihrer Lieferkette. Der tatsächlich notwendige Wert könnte allerdings deutlich höher sein, da weniger als ein Drittel der hier analysierten Unternehmen ihre Scope 3 Emissionen bislang veröffentlichen.
Zwischenfazit: Bei der Reduzierung der CO2-Emissionen braucht es branchenweit eine deutliche Beschleunigung.
Aber wie sieht es bei den einzelnen EVUs aus? Hier sind zwei Perspektiven interessant: Die Unterschiede zwischen den einzelnen Größenklassen und das Abschneiden entlang der Wertschöpfungskette.
Größere Unternehmen sind häufig weiter
Bei der Betrachtung der untersuchten Unternehmen entlang der Größenklassen sticht eine klare Korrelation zwischen Unternehmensgröße und dem Abschneiden im Index ins Auge.
Wo die Energieversorger auf dem Weg zur Klimaneutralität stehen
Im Durchschnitt schneiden nationale und überregionale EVUs hier deutlich besser ab als große Stadtwerke und Regionalversorger. Auf den hinteren Plätzen rangieren die kleinen und mittleren EVUs.
Besonders große Unterschiede gibt es bei der Strategie, der Erzeugung und den Netzen. Diese lassen sich zum einen durch die Größe und die umfangreicheren Veröffentlichungspflichten bei den am Kapitalmarkt aktiven Unternehmen begründen. Zum anderen wirkt sich an dieser Stelle der größere finanzielle Handlungsspielraum dieser Unternehmen für Pilotprojekte und eine grüne Transformation aus. Diese starteten sozusagen schon früh gut ausgestattete Expeditionen und bereiteten so den Weg, um das gesamte Unternehmen auf den Gipfel zu führen.
Bei kleineren EVUs ist der Handlungsdruck aktuell noch nicht so groß. Doch sie dürfen sich nicht zurücklehnen, sondern müssen zügig handeln und die Lücke zu den größeren Playern schließen, um keine nachhaltigen Wettbewerbsnachteile zu riskieren. Denn das gesellschaftliche Umfeld misst dem Thema CO2-Reduktion und Nachhaltigkeit ebenso eine immer höhere Bedeutung bei, wie auch Kapitalgeber dies mehr und mehr fordern.
Wertschöpfungskette: Strategie steht, Umsetzung läuft an
Beim Blick auf die Wertschöpfungskette fällt auf, dass relativ gesehen die übergreifend höchsten Bewertungen aus dem Bereich der Strategie kommen. Die Route auf den Gipfel ist also geplant und grundsätzlich abgesteckt.
Dabei sind insbesondere die bisherigen Ziele bei den überregionalen und großen Versorgern gut mit Maßnahmen hinterlegt. Beim Ambitionsniveau der primären Ziele gibt es dagegen noch Luft nach oben – die Ziele könnten noch höher gesteckt sein – genauso ist es somit auch bei den dahinterliegenden Maßnahmen. Es ist nicht überraschend, dass größere Unternehmen besser ausformulierte Strategien haben. Bei mittleren und kleineren Regionalversorgern besteht dagegen Aufholbedarf vor allem bei der Definition der erforderlichen Maßnahmen.
Im Vergleich zur Strategie ist in zur Strategie ist im Bereich Erzeugung aber auch beim B2B Vertrieb noch ein besonders weiter Weg zu gehen. Scores bei den Themen Handel, Netze und B2C Vertrieb befinden sich nahe am Gesamtmittel der Kategorien, also eher durschnittlich und somit auch mit Verbesserungspotenzial.
Beim Thema Erzeugung fällt positiv auf, wie gut überregionale Unternehmen Pilotprojekte antreiben. Der tatsächliche Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung ist jedoch noch ausbaufähig. Hier sticht keine Unternehmenskategorie besonders hervor (keine Kategorie erreicht mehr als eine mittlere Punktzahl).
Beim Thema Beschaffung verhält es sich ähnlich. Auch hier bewegen sich die analysierten Unternehmen bestenfalls im Mittelfeld. Hier wäre durchaus mehr möglich, zumal Angebote für grünen Strom im Marketing und der öffentlichen Wahrnehmung oft dominieren.
Somit gibt es schon viele gute Ansätze. Bei zwei der entscheidenden Hebel – Erzeugung und Beschaffung – bleibt jedoch ein erhebliches Verbesserungspotenzial. Damit einher geht der Anteil von erneuerbaren Energiequellen im Portfolio, insb. Power Purchasing Agreements (PPAs). Hier sind überregionale Unternehmen mit dedizierten Handelseinheiten in einer besseren Ausgangslage als die restlichen Player – aber auch für diese gilt es nun hier stärker aktiv zu werden.
Im Netzbereich besteht bei den Kernthemen „Netzausbau“ (Strom) und „intelligente Netze“ insbesondere bei regionalen Versorgern noch Handlungsbedarf, um die Voraussetzungen für die Dekarbonisierung zu schaffen. Die Energiespeicherkapazitäten dagegen sind branchenweit bereits gut ausgebaut.
Im Vertrieb gibt es insbesondere im Bereich B2B noch viele Chancen.Zwar verfügen die überregionalen Firmen hier bereits über gute Angebote für Prosumer und im Bereich der E-Mobilität. Die übrigen Versorger lassen hier aber noch viele Potenziale ungenutzt. Lokale Partnerschaften mit Kommunen und Industrieunternehmen können eine große Chance für etablierte Unternehmen sein, werden jedoch relativ wenig genutzt.
Positiv fällt das Engagement bei B2B-Energieberatungsdienstleistungen auf. Hier schneiden sowohl die großen als auch die kleinen und mittleren Regionalversorger deutlich besser ab, als die überregionalen Versorger. Der zunehmend wichtige Bereich B2B-Energiemanagementsysteme ist allerdings noch nicht sonderlich stark ausgeprägt.
Fazit: Die Branche ist auf dem Weg. Nun braucht es Geleitschutz von der Politik
Wenn das Ziel der CO2-Neutralität der Gipfel ist, dann befindet sich die deutsche Energiewirtschaft aktuell im Base Camp. Die Strategie steht, der Weg ist beschrieben und der weitere Aufstieg kann beginnen. Aber wie auf jedem Berg gilt auch hier, dass die letzten Meter bis zum Gipfel die schwierigsten sind. Hier wird die Luft dünner, das Gelände unwegsamer und der Weg ist nicht immer klar ersichtlich. Um so wichtiger ist es jetzt die Schuhe fest zu schnüren und den Aufstieg konsequent anzugehen.
Damit die Bergtour gelingt, muss natürlich auch das Wetter mitspielen. Übertragen auf die Dekarbonisierung heißt das: Neben den Anstrengungen der EVUs muss auch die Politik ihren Beitrag leisten, um die Ziele zu erreichen:
- Es braucht neue Ansätze, die mehreren Zielen gleichzeitig gerecht werden. Dazu zählen langfristige Preissignale, um die Attraktivität von Investitionen und auch Innovationen in Erneuerbare Energiequellen zu erhöhen. Genauso wichtig ist es, die effiziente und kurzfristige Einspeisung von Strom sicherzustellen und für ausreichend Flexibilität und einen Mix aus regenerativen Technologien zu sorgen.
- Zu erreichen wäre dies beispielsweise durch eine Festlegung auf klare (erhöhte) Ausbauziele entsprechend des EU-Klimaziels und feste Strommengenziele für erneuerbare Energien.
- Eine stärkere Bürgerbeteiligung und höhere finanzielle Anreize können helfen, die dezentrale Versorgung mit erneuerbaren Energien zu verbessern.
- Auch nach der Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes, die unter anderem Power Purchase Agreements, die Beteiligung der Kommunen beim Ausbau der Windenergie und die Eigenversorgung erleichtern, sind weitere Vorstöße denkbar, die die Planung und Genehmigung von Anlagen, insbesondere im Hinblick auf Repowering, beschleunigen.
- Eine langfristige Erhöhung des CO2-Preises würde volkswirtschaftliche Anreize für eine stärkere Nachfrage nach Strom und Wärme aus erneuerbaren Energien durch Verbraucher setzen.
Sieben Handlungsempfehlungen: damit EVUs möglichst schnell und sicher zum Gipfelkreuz gelangen
- Konsequente Dekarbonisierung in der Erzeugung und Handel
- • Relevantester Hebel, da Erzeugung die größte Primärquelle für CO2-Emissionens ist
- • Nicht nur Strom, sondern auch grüne Wärmeproduktion steht im Fokus
- • Notwendigkeit einer klaren Strategie, um „Stranded Assets“ zu minimieren
- Zielgerichtete Ausweitung des Angebots von B2C und B2B Dekarbonisierungslösungen
- • Hohes Marktpotenzial durch hohen Bedarf an B2C- und B2B-Lösungen zur Dekarbonisierung
- • B2B: Häufig fehlende Kompetenzen zur erforderlichen Reduktion der CO2-Emissionen
- • B2C: Große Bedeutung für Endverbraucher, die bereit sind, höhere Kosten zu zahlen
- Klare Stakeholder-Kommunikation nach Außen
- • Festsetzung eindeutiger Ziele und einer klaren Marschrichtung
- • Kommunikation an externe Stake- und Shareholder und damit auch Sicherstellung der Anforderungen für den ungehinderten Zugang zu Finanzierungsmitteln
- Systematische Nutzung der Digitalisierung
- • Realisierung von (dezentralen) Lösungen nur durch konsequente Digitalisierung möglich
- • Schaffung der notwendigen Grundlagen essentiell zur erfolgreichen Implementierung (z.B. Aufbau einer modularen IT-Architektur zur systematischen Anbindung von Partnern)
- Nachhaltiger Kulturwandel und Mindset-shift nach Innen
- • Ziele auch konsequent nach innen tragen und die Mitarbeiter für diese gewinnen, um den Kulturwandel zu realisieren
- • Dazu systematische Beteiligung am Zielsetzungsprozess sicherstellen sowie Ziele so herunterbrechen, dass diese für den Einzelnen verständlich und in der täglichen Arbeit umsetzbar werden
- Stringente Verankerung in Steuerung und Governance
- • Fortschritt beim Erreichen der Dekarbonisierungsziele im Rahmen der Steuerungsgrößen erfassen und damit den oftmals rein finanziellen Rahmen konsequent erweitern
- • Stärkere und spürbare Verknüpfung der Dekarbonisierung mit den persönlichen / individuellen Zielen herstellen, um der Umsetzung Nachdruck zu verleihen
- Unterstützung durch Transformationsroadmap
- • Übergreifende Transformationen sind notwendig, um die gesteckten Ziele sowohl nach außen als auch nach innen zu erreichen
- • Dazu Roadmaps mit klaren Meilensteinen definieren und deren Umsetzung konsequent nachhalten